Dieses Blog durchsuchen

Montag, 21. Mai 2012

Warum die "Freiheit des Mandatsträgers" falsch interpretiert wird

Artikel 38 des deutschen Grundgesetzes besagt:
„(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Hieraus erklärt die Piratenpartei Deutschland ein gesetzliches Verbot für einen Fraktionszwang. Aber wie wir in der Praxis sehen, gibt es in den anderen Fraktionen eine freiwillige Unterordnung unter einen Fraktionswillen. Der nur in Ausnahmefällen durchbrochen wird, nämlich dann, wenn ein Abgeordneter eine Entscheidung nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann, und Sanktionen in Kauf nimmt.

Die Piratenpartei lehnt offensichtlich auch eine freiwillige Unterordnung unter einen Fraktionswillen ab, und verweist darauf, dass ein Abgeordneter nur seinem Gewissen und dem Wähler gegenüber verantwortlich ist. Dabei macht sie aber m.E. einen entscheidenden Fehler in der Argumentation. Denn die Piraten unterscheiden nicht, so wie auch das Gesetz dies nicht tut, zwischen direkt gewählten Abgeordneten, die als Persönlichkeit durch die Wähler den Vertretungsauftrag erhalten haben, und andererseits den Listenmandatsträgern, die durch die Parteimitglieder gewählt wurden.

Der Unterschied ist gravierend. Im Fall der Zweitstimme, die zum Listenmandat wird, entscheidet sich der Wähler nicht für eine Person, einen direkten Vertreter. Er entscheidet sich für eine Idee, ein Programm, eine Partei. Dies wiederum bedeutet, dass ein Listenmandatsträger, der eine von seiner Partei abweichende Meinung vertritt, gegen den Willen des Wählers agiert. Denn der Wähler hat sich für die Partei ausgesprochen, nicht für seinen individuellen Willen.

Nun wird dieser Argumentation entgegen gehalten, dass der Spitzenkandidat der Landesliste sehr wohl eine herausgehobene Stellung im Wahlkampf innehat. Und dass Wähler durch sein Auftreten beeinflusst werden, und die Partei auch wegen dieser Person wählen.

Das mag zutreffend sein. Aber es ist immer noch keine direkte Beauftragung von z.B. 19 weiteren Abgeordneten im NRW-Parlament. Kaum einer der Wähler hat sich bewusst für einen der Kandidaten entschieden. Der Wähler verlässt sich auf das Votum der Partei, er überträgt die Repräsentation seines Willens auf diejenigen, die die Listenkandidaten wählen.

ARTIKEL 21

„(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.“
Artikel 21 ist in Zusammenhang mit Artikel 38 zu sehen. Die innere Ordnung der Partei muss demokratischen Grundsätzen entsprechen. Diese wäre nicht gegeben, so die Kritiker von Fraktionszwang, wenn Abgeordnete gezwungen würden, Mehrheitsbeschlüsse im Parlament zu vertreten.

Während man Probleme damit haben kann, das Erfüllen des Willens einer Mehrheit als undemokratisch anzusehen, spricht der damit verbundene Zwang wesentlich stärker gegen eine Verpflichtung dieser Art. D.h. niemand darf gezwungen werden, gegen sein Gewissen seine Stimme abzugeben.

Wenn Zwang nicht mit dem Selbstverständnis der Piraten vereinbar ist, ebenso wenig wie mit Artikel 38 GG, andererseits aber ein Abgeordneter, der gegen den Willen der Partei stimmt, nicht mehr dem Willen der Wähler folgt, muss eine Lösung gefunden werden.

LÖSUNG

Die Lösung besteht m.E. in einer Erklärung der Kandidaten für ein Mandat, in der sie erklären, wie sie sich verhalten werden, wenn im Parlament eine Entscheidung ansteht, in der sie nicht dem Votum der Partei folgen wollen. Dabei ist auf eine standardisierte Beantwortung Wert zu legen. Diese beinhaltet drei Möglichkeiten: Ich werde mit meinem Gewissen gegen den Willen der Partei stimmen, ich werde mich enthalten, ich werde mein Mandat zurückgeben. Langatmige Erklärungen über die Unwahrscheinlichkeit dieses Falles müssen unterbleiben.

Die Mitglieder, die über eine Kandidatur entscheiden, haben dann die Wahl, ob sie ihr eigenes Mandat zur Bestimmung der Politik der Partei und des Kandidaten an den Kandidaten abgeben wollen, oder ob sie Kandidaten wählen wollen, die bei Gewissenskonflikten erklären, ihr Mandat zurück geben zu wollen.

WIE DURCHSETZEN?


Sofort kommt die Frage auf: Wie will man das durchsetzen? Nun es muss nicht durchgesetzt werden. Zwang ist kein Mittel um Demokratie, Verantwortungsbewusstsein und selbständiges Denken durchzusetzen. Es mag {und soll vielleicht sogar in bestimmten Situationen} Mandatsträger geben, die gegen einen Parteiwillen stimmen. Aber sie werden dies ausführlich zu begründen haben und sich rechtfertigen müssen. Ebenso wie die Frage, warum sie sich nicht an ihre Erklärung als Bewerber gehalten haben. Auf diese Art erhält man die Unabhängigkeit des Mandatsträgers sowohl in rechtlicher als auch in moralischer Hinsicht. Klärt aber, an wen die Wähler ihr Mandat delegiert haben: An diejenigen innerhalb der Piratenpartei, die die Listenkandidate bestimmten.

Um es deutlich zu sagen: Es gibt auch in diesem Fall keinen Fraktionszwang. Es gibt lediglich die Voraussage über ein Verhalten im Fall eines Konfliktes zwischen Parteientscheidung und dem Gewissen des Mandatsträgers. Der Unterschied besteht darin, dass durch diese Frage und die dahinter stehende Idee klar gemacht wird, dass die Partei den Mandatsträger nicht als Einzelkämpfer losschickt, der jede Entscheidung nach eigenem Gusto treffen kann. Dieser Eindruck entsteht nämlich aus vielen Meinungsäußerungen innerhalb der Piratenpartei.

UND DIREKT GEWÄHLTE MANDATSTRÄGER?

Auf Landes- und Bundesebene mag die Wahrscheinlichkeit eines direkt gewählten Piraten gering sein. Denkbar ist aber auf kommunaler oder Kreis-Ebene durchaus, dass ein Mandatsträger der Piraten auch in einer Direktwahl erfolgreich ist. Für diesen gilt natürlich der Grundsatz, dass er als Persönlichkeit, der zwar die Partei vertritt, aber als Persönlichkeit gewählt wird, in seinen Gewissensentscheidungen frei sein muss. Er persönlich verantwortet die Entscheidungen gegenüber seinen Wählern. Und die Partei ist erst in zweiter Reihe tangiert.

Für einen direkt gewählten Mandatsträger kehrt sich die Situation um. D.h. die Partei muss ihn überzeugen, dass die Entscheidung richtig ist, er entscheidet aber grundsätzlich unter der Maßgabe dem Willen der Wähler nach zu kommen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen