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Dienstag, 22. Mai 2012

Liquid Feedback - Systemkritik und Chancen

Die Idee von Liquid Feedback ist bestechend. Jederzeit kurzfristig eine fast repräsentative Meinung durch die Basis einzuholen bedeutet für die Führung einer Partei Sicherheit vor Shitstorms und für die Basis garantierte Mitbestimmung. Leider ist aber derzeit nicht absehbar, dass die Konzepte zu Liquid Feedback, die implementiert und geplant sind, geeignet sind, um diese Vision wirklich erreichen zu können. Die Lösungen sind zu techniklastig, zu kompliziert, zu theoretisch begründet. Der Artikel von heise online (1) schließlich brachte mich dazu endlich einmal meine ganz persönlichen Vorstellungen eines ganz einfachen Basismitglieds zu definieren. Und nun sagt mir nicht, dass das nicht möglich wäre, oder zu unprofessionell. Fragt lieber die Mitglieder, ob sie programmierende Nerds sind oder ganz normale Bürger, die sich politisch einbringen wollen.

Damit ich Liquid Feedback wirklich akzeptieren kann, hier meine Vorstellungen der Grundaussagen eines Lastenheftes zu einer „Online-Lösung zur Befragung von Mitgliedern“.

1) Barrierefreiheit

Die Software muss so einfach sein, dass sie von jedem, der einen Computer oder ein Mobiltelefon bedienen kann sofort intuitiv beherrscht wird. Daher sind die Funktionen zu reduzieren (nicht zu erweitern) und die Menüführung an die Vorgaben von Marktführern zu orientieren, auch wenn diese nicht immer den einschlägigen Standards entsprechen sollten. Wichtiger als Standards ist Widererkennung und einfache Bedienung.

2) Einfache Prinzipien

Die Grundsätze für die Bedienung müssen vereinfacht werden. Je komplizierter eine Software ist, desto weniger wird sie von der Masse der Mitglieder akzeptiert. Es geht nicht darum, eine Software für eine Elite zur Verfügung zu stellen, sondern für die Gesamtheit der Mitglieder.

3) Auch Mitbestimmung ohne Computer

Auch Menschen, die keinen Computer haben, müssen in der Lage sein, ihre Stimme für oder gegen ein Projekt, oder für eine Rangfolge abzugeben. Dafür sind z.B. SMS-Abstimmmöglichkeiten zu schaffen, oder Apps, die auf nicht anspruchsvollen Mobiltelefonen nutzbar sind.

4) One Man One Vote

Was für die Parteitage gilt, muss zum einfacheren Verständnis und zur größeren Transparenz auch für Liquid Feedback gelten. Es ist einfach nicht nachzuvollziehen, warum man ein Delegationssystem, sogar in extremen Ausmaß, in einer elektronischen Abstimmung zulässt, aber nicht auf einem Parteitag. Dabei wäre eine Delegation für einen Parteitag noch wesentlich sinnvoller und erklärbarer.(2)

Jedes Mitglied muss potentiell die Möglichkeit haben, barrierefrei (siehe oben) seine Meinung im elektronischen System ebenso abzugeben wie auf Parteitagen. Diese Forderung kann nicht durch mathematische Berechnungen von Repräsentanz ersetzt werden. Mir als Mitglied ist egal, ob meine Meinung statistisch gesehen berücksichtigt wird. Ich will selbst entscheiden, ob und welche Meinung ich fördere und welche nicht. Ebenso will ich in der Lage sein, selbst Anträge einzureichen. Eine Zwei-Klassen-Mitgliedschaft ist ganz besonders nicht in der Piratenpartei hinnehmbar.


5) Antragsbarrieren

Um die Flut von Anträgen einzudämmen, und das System nicht durch die schiere Masse von Entscheidungen unattraktiv zu machen, müssen Anträge von mindestens x Mitgliedern (3) unterstützt werden, bevor sie überhaupt in die Phase des Quorums kommen. Dafür muss aber dann das Quorum reduziert werden. Mit zunehmender Mitgliederzahl muss natürlich das Quorum sinken. Derzeit (4) wären m.E. 5% angemessen.

6) Information über anstehende Entscheidungen

Das System muss auf Wunsch per E-Mail oder SMS (je nach gewählter Stimmabgabe) über anstehende Entscheidungen informieren.

7) Feststellung ob ein Entscheid repräsentativ ist

Nach erfolgter Auszählung muss mit geeigneten statistischen Methoden festgestellt werden, ob die Aussage als weitgehend repräsentativ angesehen werden kann oder nicht. Dabei ist von der Gesamtheit der Mitglieder auszugehen, nicht von den Nutzern von LQFB. Die Einschränkungen, z.B. weil wir keine Geschlechtsdaten erheben, ist mir bewusst. Natürlich muss "repräsentativ" sich an den Möglichkeiten, nicht an Theorien orientieren.

8) Aussagekraft der Entscheidungen

Es handelt sich weiterhin NICHT um „Entscheidungen“ wie fälschlicherweise auf Parteitagen zur Verunsicherung von Mitgliedern behauptet wurde. Sondern es handelt sich um Hinweise für die Vertreter der Partei, in welche Richtung die Partei tendiert, um entsprechende Aussagen treffen zu können. Mit der Einschränkung, dass die Entscheidung durch einen Parteitag bestätigt werden muss.

9) Manipulationen, Anonymität, Klarnamen

Da das System keine verbindlichen Entscheidungen produziert, sind die Fragen der Manipulierbarkeit, der Anonymität oder der Klarnamenerfordernis  Detailprobleme, akademische Fragen, die diskutiert und in der Zukunft gelöst werden müssen, die aber nicht die derzeitige Diskussion über die grundsätzliche Verwendung blockieren sollten. Selbstverständlich muss das Ergebnis zuverlässig sein. Aber ich vertraue auf die Aufmerksamkeit des Schwarms, dass grobe Fehler aufgedeckt würden.

11) ZUKUNFT

Natürlich ist LQFB in der genannten Form nur eine Zwischenstufe. Denn Parteitage müssen in Zukunft die Möglichkeit beinhalten, dass Mitglieder auch bei Abwesenheit über die anstehenden Entscheidungen mit abstimmen können. Dafür muss eine geeignete Form gefunden werden. Vorzugsweise ausgehend von dem LQFB das zunächst als nicht verbindliches Werkzeug vorhanden ist. Liquid Feedback ist der Anfang, direkte Beteiligung an demokratischen Prozessen das Ziel. Mit diesem Ziel beschreiben wir die nächste Stufe der Demokratie, die dringend notwendig ist, um die zukünftigen Konfliktpotentiale bewältigen zu können. (5)

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(1) http://www.heise.de/tp/artikel/36/36975/1.html

(2) Im elektronischen System, wie von mir dargestellt, gibt es keine Barrieren. Jeder der will kann teilnehmen. Bei einem Parteitag gibt es jede Menge Barrieren. Geld, Zeit, Entfernung usw. Außerdem gilt die alte Regel, dass einzelne Mitglieder leichter manipuliert werden können als Delegierte. D.h. Mitglieder, die nur sich selbst gegenüber verantwortlich sind, neigen eher dazu a) ihre Meinung kurzfristig zu ändern, oder b) mit der Masse zu stimmen, um keinen Fehler zu machen, als Delegierte, die ein vorgegebenes Abstimmungsverhalten durch die delegierenden zu vertreten haben.

Extrem kommt dies zum tragen, wenn das Verhalten von einzelnen Mitgliedern mit einem Akzeptanzvoting verbunden wird. Dann tritt die Erscheinung ein, die bei Heise als „Würstchenwender“-Entscheidung genannt wurde.


(3) Die Anzahl müsste noch vereinbart werden. Die Hürde darf nicht zu hoch, aber auch nicht zu niedrig sein. Evt. müsste nach Einführung eine Anpassung vorgenommen werden.

(4) ca. 8000 Teilnehmer von 30.000 Mitgliedern bei weniger als 1000 Beteiligten pro Abstimmung

(5) Demokratie hat sich deshalb als die am besten geeignete Gesellschaftsform erwiesen, weil sie das Prinzip des Interessenausgleichs durch Faustrecht und der Gewalt durch Konsens-Suche und -Bildung sowie Minderheitenschutz ersetzt. Hierdurch wird die Wahrscheinlichkeit von gewalttätigen Problemlösungen reduziert. Wahlen sind die geschaffenen Ventile. Wir sehen derzeit aber eine Entfremdung der Menschen von der Politik, z.B. durch die aktuell betriebene, basisferne EU-Politik, oder z.B. durch ESM, durch Bankenrettung und Kriegsführung in fernen Ländern. Diese Entfremdung droht zu eskalieren, wenn wir nicht die Möglichkeit schaffen, eine nächste, direktere Stufe der Teilnahme an den Konsens-Prozessen einer Gesellschaft zu erreichen. Liquid Feedback kann hier eine wichtige Rolle spielen, denn sie bindet die Menschen wieder stärker ein, statt sie auszugrenzen. Wichtig dabei ist aber, dass von Anfang an der Eindruck vermieden wird, dass das System manipulierbar ist, oder manipuliert wird. (Delegationen)






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