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Donnerstag, 19. März 2015

Der Jauchismus und das Fingergate

Screenshot YouTube-Video
Eigentlich wollte ich eine Pause mit dem Schreiben einlegen, denn die derzeitige Politik, in zu großen Zügen genossen, kann Depressionen erzeugen. Aber zum Thema Jauch und Stinkefinger muss ich doch noch einen Kommentar abgeben. Weil es ein grundsätzliches Problem aufzeigt. In einem kürzlich geführten Gespräch kam die Rede auf den ehemaligen Verteidigungsminister Scharping. Und mein Gesprächspartner wies darauf hin, dass dieser den Fehler begangen hätte, sich mit einer netten jungen Frau im Whirlpool ablichten zu lassen, und das zu einem politisch unpassenden Moment. Als ich darauf hinwies, dass ich das nur am Rande mitbekommen hatte, war er verblüfft. Auf meine Gegenfrage, ob er wüsste, dass Scharping mit seiner Behauptung eines Massakers den Kosovo-Krieg möglich gemacht hatte, und welche Rolle der Hufeisenplan spielte, konnte er mir nichts sagen. Genau das Gleiche spielt sich derzeit in der Griechenland-Debatte ab. Jeder kennt die Geschichte des "Stinkefingers", aber niemand die programmatischen Aussagen des griechischen Finanzministers, die er seit Jahren auf seinem Blog verbreitet. Was kann die Krise der Demokratie besser beschreiben?

Die so genannte Demokratie ist in Wirklichkeit besser als Mediokratie zu beschreiben, als ein System, das sich durch Medien-Beeinflussung von einer Polyarchie langsam in Richtung Oligarchie entwickelt. Schauen wir auf den "griechischen Stinkefinger". Yanis Varoufakis schreibt seit Jahren scharfsinnige und kluge Kommentare auf seinem Blog. Seine finanzpolitischen Analysen, haben sich, zurückblickend, als zutreffend heraus gestellt. Obwohl Marxist, hatte er sich entschlossen, im Interesse der Menschen, zu helfen, den Zusammenbruch des Geldsystems hinauszuzögern. Eine Entscheidung, die ihn nicht nur in rechten und konservativen Kreisen, aufgrund seiner linken Einstellung, sondern auch einigen linken Kreisen, aufgrund seiner den Kapitalismus stützenden politischen Haltung, unbeliebt machte.

Dieser Varoufakis tritt als Oppositionspolitiker vor Jahren auf einer Veranstaltung auf, bei der er über sein Buch berichtet, und zeigt dabei den Stinkefinger. Und Günther Jauch analysiert nicht seine Aussagen, und versucht sie zu diskutieren, sondern er macht den Stinkefinger zum Thema. So als ob es nichts Wichtigeres gäbe. Was meine Einschätzung bestätigt, dass Jauch die Verkörperung des so genannten Journalismus der Bildzeitung darstellt. Was aber das Schlimmste ist: Obwohl Jan Böhmermann genau diese Erkenntnis durch seine Satire auf die Spitze treibt, um sie auch wirklich jedem vor Augen zu halten, begreifen es die Menschen immer noch nicht.

Stattdessen erklären einige Varoufakis zum Lügner, weil er beharrlich weigert, zuzugeben, dass er sagte, was man ihm in der Sendung nachsagte. Und niemand merkt, dass es gar nicht um den Finger geht, sondern um die Aussage, um den Sprechakt. Wer das gesamte Video im Original anschaute, dem fiel auf, dass Varoufakis quasi sich zitierte, um eine komplexe politisch-akademische Erörterung zu erläutern, bei der es um die griechische Situation im Jahr 2010 ging. Er gestikulierte die ganze Zeit enorm viel, das fällt sicher jedem auf, und der Finger kam ganz beiläufig zur Illustration des Gesprochenen. Wer daraus das ableitete, was Jauch in seiner Sendung, aus Unwissen oder Böswilligkeit, zu vermitteln suchte, ist weder ernst zu nehmender Journalist, noch an den sachlichen Zusammenhängen interessierter Beobachter.


Kein Journalist hatte sich die Mühe gemacht, richtig zu interpretieren, was Varoufakis meinte. Nämlich dass es seinerzeit besser gewesen wäre, für Griechenland, aber auch den deutschen Steuerzahler, die Krise nicht wie ein Liquiditätsproblem zu behandeln, sondern als Insolvenz. Was nämlich Griechenland Jahre des Leidens verkürzt hätte, und dem deutschen Steuerzahler zusätzliche Zinslasten, die durch die Zwischenfinanzierung aufgelaufen war, verhindert hätte, ebenso wie die stillschweigende Übernahme der Griechenland-Schulden durch die Staaten, statt die Banken zur Haftung heran zu ziehen. Wie üblich wurden (drohende) Verluste sozialisiert, während über Jahrzehnte die Profite privatisiert geblieben waren.

 

VAROUFAKIS LÜGT NICHT


Holm Fiebe hat in seinem Artikel in Carta sehr schön dargestellt, wie man böswillig einen Stinkefinger beliebig um-interpretieren kann.  Und er schreibt deshalb vollkommen zutreffend:
"Und in den Reaktionen auf Varoufakis schwimmt das ekeligste Fett Deutschlands einmal kurz ungelöst als Fettaugen auf der Suppe."
Yanis Varoufakis wollte mit seiner Geste im Jahr 2013 ausdrücken, dass Griechenland Jahre zuvor eben hätte deutschen Banken den Mittelfinger zeigen können, es aber nicht tat, und jetzt nicht mehr tun kann. Deshalb hat Varoufakis Recht, wenn er von "Fälschung" spricht, wenn Jauch mit seiner Frage alleine den Finger zum Thema macht. Es ging Varoufakis dabei nicht um Video-Manipulationen, sondern um den Schnitt.

So erklärt sich auch, warum Varoufakis das Originalvideo MIT seinem Stinkefinger auf seinem Blog veröffentlichte, und damit bewies, dass die Aussage manipulativ ausgewählt und falsch übersetzt bzw. interpretiert worden war. Und einige fragten "Er spinnt doch, man sieht doch den Stinkefinger". Weil niemand sich wirklich die Mühe machte, zu analysieren, was er SAGTE.

Eine andere Analyse verdeutlicht noch einmal die verlogene manipulative Nutzung einer Geste. Leider habe ich die Quelle nicht mehr parat. Der Autor schrieb:
"Was genau in der Sendung passierte: Der Einspieler Jauch zeigte einen Einspieler, der von @ACichowicz verantwortet wurde. Der Einspieler endete mit einem Knalleffekt: (sekundengenau:)
https://www.youtube.com/watch?v=Vx-1LQu6mAE#t=1m23s
Bitte diese extrem manipulierte Montage wirken lassen. Sprecher: Varoufakis fürchtet sich nicht vor unmissverständlichen Äußerungen, speziell zu Deutschland:
(O-Ton + Untertitel:) "Griechenland sollte einfach verkünden, dass es nicht mehr zahlen kann.  ... Und Deutschland den Finger zeigen und sagen: Jetzt könnt ihr eure Probleme alleine lösen."
Zum Vergleich die O-Passage aus Zagreb 2013 (sekundengenau):
https://www.youtube.com/watch?v=1KSmcUyAZwU#t=1m35s
Der Kontext des Dementis: Varoufakis sitzt in Athen im Studio, live, sehr angespannt, und dann: Schock. Jauchs Einspieler. Es geht um die Situation jetzt, Griechenland steht vor dem Grexit. Bild und alle deutschen Medien haben die Situation extrem aufgeheizt. Die Jauch-Redaktion legt ihm diese zwei Sätze als seine Aussage in den Mund. Vor den deutschen Fernsehzuschauern, die sich jetzt erstmals selbst ein Bild machen können. Das Dementi: Varoufakis ist extrem aufgeregt und dementiert:
Das Video sei "doctored", er habe niemals Deutschland den Finger gezeigt, jeder könne seine Artikel nachlesen, um zu wissen, dass das absurd sei, ihm diese Aussage zu unterstellen.
Original Transkript von Vs Dementi HIER. Analyse des Linguisten @astefanowitsch dazu HIER. Ziel von Varoufakis war es, die Diskussionssendung sachlich fortsetzen zu können. Er sagte also den Zuschauern etwa: Glaubt mir jetzt einfach mal, das mit dem Finger ist eine Lüge.
Die Simultanübersetzung: Die Simultanübersetzung war sehr ungenau und verstärkte den Eindruck, Varoufakis meine immer nur den bildlich zu sehenden "Finger". (Genaue Aufschlüsselung der Fehler: siehe Transkript oben.)
Lüge: Sofort nach Varoufakis Aussage freuten sich politische Gegner, dass er "gelogen" habe. Der Finger sei ja gezeigt worden, Varoufakis habe aber gesagt, den Finger habe es nicht gegeben. Wenn Vaorufakis so zu verstehen gewesen wäre, hätte er also Folgendes gesagt: "Ja, ich habe diesen Satz so gesprochen und gemeint, aber natürlich würde ich dazu nie dazu den Finger tatsächlich zeigen."  Ein solches "Dementi" ergibt keinerlei Sinn.  Es hätte ja gar nicht die infame Aussage des Einspielers dementiert. Bestenfalls wäre es um eine Stilfrage gegangen. Das ist eine Verwechslung von "Finger [zeigen]" als Sprechakt (darum ging es eindeutig die ganze Zeit) und "Finger" als isolierte Geste (unabhängig vom Gesprochenen). Es ging V. ganz eindeutig um den Sprechakt (genau dazu vgl. unten), nicht um das Bild. Es wurde ja in Zagreb ganz unbestritten die gesprochene O-Aussage verwendet "and stick the finger to Germany". (Die durch die Geste untermalt wurde.) Es hätte V. überhaupt nichts geholfen, wenn er hätte behaupten wollen, dass dazu der reale Finger hineinmontiert worden sei. Der Sprechakt wäre ja geblieben.
Zagreb 2013: Tatsächlich war die Aussage wie auch der Sprechakt in 2013 ganz anders, als es das Jauch-Video live den deutsche Zuschauern suggerierte und damit den völlig unvorbereiteten Varoufakis aus der Fassung brachte."

LÜGENMEDIEN


Der so genannte Journalismus eines Günther Jauch, oder wie sie alle heißen mögen, die heute im Mainstream die Medien gestalten,  basiert auf billigen Effekten. Ähnlich den Hütchenspielern oder Zauberkünstlern. Wie diese mit ihren Fingern, agieren jene mit Schnitten, Interpretationen und Worten. Während die Fingerkünstler dem Publikum ein OH oder etwas Geld entlocken wollen, geht es den Wort- und Schnittkünstlern darum, möglichst Emotionen zu nutzen, um sie zu geldwerten Vorteilen zu machen. Einschaltquote, Klicks, sind gleichbedeutend mit Karriere und Verdienst.

Und dieser Boulevard-Journalismus, und der Kampf um Marktanteile und persönliche Bereicherung, hat derart überhand genommen, dass ernsthafter Journalismus fast nur noch nach Mitternacht und/oder in Spartenkanälen zu sehen ist.

Ernsthafte Journalisten, die ihre Aufgabe ernst nehmen, und versuchen, die Menschen aufzuklären, ihnen Tatsachen zu zeigen, die diese bisher nicht kannten, Zusammenhänge erklären, können froh sein, nicht zum Aufstocker zu werden. Während Boulevard der niedrigsten Art, die Meinung der Menschen, und gleichzeitig die Richtung der Politik, bestimmt.

Was zwangsläufig zur Krise der Demokratie führte. Denn diese Art von Journalismus verhindert effektiv die Kontrolle der Elite durch die Wähler. Und so sind wir heute bereits auf der Schwelle von einer Polyarchie, die eigentlich die Vorstufe zur Demokratie sein sollte, zur Oligarchie.

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