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Dienstag, 17. April 2012

Die deutsche Revolution

Zu dem Zeitpunkt, da ich als junger Mann nach Frankreich kam, war die 1968er Bewegung schon im Ausklingen begriffen. Aber ich musste mir von französischen Kollegen oft anhören, dass wir Deutschen ja nie eine richtige Revolution durchgezogen hätten. Und unter deutschen Spöttern machte das geflügelte Wort die Runde, dass Deutsche eine Bahnsteigkarte kaufen, wenn sie bei einer Revolution den Bahnhof besetzen. Heute weiß niemand mehr, was eine Bahnsteigkarte ist. Und wir setzen uns für barrierefreies Internet ein. (1) Aber heute können wir Deutschen mit Stolz in die Nachbarländer schauen und ihnen zeigen, wie man im 21. Jahrhundert eine Revolution macht.

Denn was sich in der Piratenpartei Deutschlands manifestiert, ist eine unblutige Revolution. Eine Revolution mit den Mitteln des Establishments. Und es ist eine Revolution, die erstmals nicht durch einen Klassenkampf vorgetragen wird, sondern in der der klassische Begriff der „Klasse“ sich verändert zum Begriff des „Bürgers“.

Da sieht man die längst im Pensionsalter stehende Kunstlehrerin, die sich für Kultur und Bildung einsetzt und plötzlich mit vollkommen fremden Technologien konfrontiert wird, mit der sie sich tapfer auseinandersetzt. Sie sitzt neben dem promovierten Physiker und Beamten, der die 50 längst überschritten hat und offensichtlich überhaupt nicht in das Alter zu passen scheint. Beide werden eingerahmt von einer 21 jährigen Psychologiestudentin und einem 30-jährigen Landwirt, die gerade mit einem 28-jährigen Sozialarbeiter diskutieren, der sich damit geoutet hat, auch Rauschmittel zu konsumieren. Gleich gegenüber findet sich der Polizist, der sich mit dafür einsetzt, dass Polizeibeamte eine Identifikationskennzeichnung erhalten. Und ein Harz IV-Empfänger offenbart, dass er nicht zum nächsten Parteitag kommen kann, weil ihm das Geld fehlt, worauf sich spontan Mitglieder melden, die ihm Mitfahrt und Unterkunft anbieten.

Diese bunte Truppe rockt das politische Establishment bis in die Grundfesten. Sie schlagen die politische Elite mit ihren eigenen Waffen. Während sie fast einstimmig die Grünen auf der grünen Seite überholen, indem sie die Regeln des freien Marktes für Atomkraftwerke fordern, überholen Sie die FDP auf der liberalen Seite und fordern implizit das AUS für Atomkraft. Denn ohne offene und versteckte Subventionen wird Atomstrom so teuer, dass er kaum noch Chancen hat gegen solchen Strom, der aus generativen oder regenerativen Quellen kommt. Eine Signalwirkung für die Welt, die die Heuchelei des Neo-Liberalismus deutlicher aufzeigt als jede ausführliche wissenschaftliche Darstellung.

Die Piraten sind die ersten, die es wagen, die nach Banken und Versicherungen mächtigste Industrie anzugreifen, die Content-Industrie. Jene Industrie, die Autoren und den geistigen Urhebern ihrer „Waren“ lächerliche Anteile an den Erlösen aus „geistigem Eigentum“ zukommen lässt, und lediglich einzelne Großverdiener hätschelt. Aber heuchlerisch immer den Schutz der armen Dichter vorschiebt, um eigene Interessen zu schützen. Während das System  gleichzeitig so pervers ist, dass Urheber für ihre eigenen Werke bei öffentlichen Auftritten Lizenzen an die Gema zahlen müssen. Und was der Urheberschutz für ihre Erzeuger bedeuten soll, der 70 Jahre ihrem Tod noch gültig ist, kann jeden zum Grübeln anregen.

Das Gefährlichste für das Establishment aber ist die Forderung nach freiem Wissen! Bisher wird Wissen erfolgreich unter dem Titel „Urheberrechtsschutz“ gedeckelt gehalten. Aber längst hat der Deckel Löcher bekommen und immer mehr Menschen, die etwas zu sagen haben, bedienen sich einer freien Lizenz und des Internets. Wissen ist Macht ist im Deutschen ein geflügeltes Wort, das auf den englischen Philosophen Francis Bacon (1561–1626) zurückgeht (Wikipedia). Wissen ist aber im Wesentlichen Zugang zu Information und Bildung. Die Tatsache, dass dieser Zugang bisher durch Urheberrecht und Bildungsbarrieren behindert war, hat die Entwicklung der Gesellschaft erheblich behindert. Mit freiem Zugang zu Wissen, wird die Macht der derzeit Mächtigen bröckeln und hinfällig werden. Eine Revolution, die mächtiger sein wird als die Französische Revolution, in der nur scheinbar eine Elite durch die Massen ersetzt wurde. Tatsächlich bildete sich damals nur eine neue Elite heraus, die für sich beanspruchte, Herrschaft ausüben zu dürfen. Während wir durch die neue Revolution alle zu Mächtigen werden.



(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Bahnsteigsperre



8 Kommentare:

  1. Die Piraten sind keine Partei, sie sind eine Menschenrechtsbewegung von unten.

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  2. Ja, alles ganz gut und schön - aber wo wird mir jetzt der Zugang zu Wissen verwehrt oder "gedeckelt"?

    Wenn ich etwas wissen möchte, kann ich mich doch zu nahezu allen Themen informieren - im Internet, oder ich kaufe mir ein Buch.

    Wem wird denn in unserem freien Land bitteschön Wissen verwehrt?!

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    1. Fachliteratur ist teuer. Und die Veröffentlichung mit viel zu großer Verzögerung. Es wäre längst überfällig, Streaming und YouTube Veröffentlichungen sowie Niederschriften im Internet öffentlich zu machen. Das wäre barrierefreier Zugang zu Wissen.

      Keine hohe Kosten für Bücher oder Zeitschriften, kein lästiges Warten in der Uni-Bücherei auf die Ausleihe, und kein Warten auf die offiziellen Papiere.

      Nachteil: Kein Zusatzeinkommen für Professoren, und die Verlage müssen ein neues Geschäftsmodell finden.

      Um nur ein Beispiel zu nennen.

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    2. Wenn Fachliteratur teuer ist, ist das Pech, muss man eben sparen - man kann in dieser Welt nicht den Anspruch haben alles geschenkt zu bekommen.

      Und zum Rest: Die Einschränkung des Urheberrechts im wissenschaftlichen Bereich sehe ich ja noch ein, aber im Musik, Literatur und Kunstbereich keinesfalls! Nur weil irgendwelche Youtubekiddies alles kostenlos bekommen möchten werden total abstruse Forderungen gestellt! Ich als Künstler würde mir überlegen, ob ich bei eurem "Geschäftsmodell" überhaupt noch eine Platte auf den Markt bringe, oder ein Buch schreibe, oder oder oder.

      Was hat einer eurer (oder die eurer favorisierten Piratenpartei) Mitglieder letztens noch im Fernsehen gesagt: "Viele haben ja mehrere GB Musik "gezogen", das würden die Leute ja niemals kaufen. Ja, gut so - wenn sie die Musik nicht kaufen würden, dann müssen sie sie aber auch nicht besitzen. Und, obwohl ich den Moderator eigentlich nicht mag, hat der Moderator Recht gehabt, wenn er sagt "Ach, wenn man einen Pulli klaut, ihn aber dann nicht anzieht, dann ist das ok?!"

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    3. Wenn man einen Pulli klaut ist er aus dem Laden verschwunden. Wenn man ein Musikstück kopiert, hat es sich verdoppelt.

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    4. Ich rede jetzt mal nur von Fachliteratur. Wenn man sparen muss, um sich die zu kaufen, ist das eine Barriere. Dadurch werden nur die zum Wissen zugelassen, die das Geld dazu haben oder "sparen" können. Die Gesellschaft würde sich wesentlich schneller entwickeln, das Wissen würde sich einfach schneller verteilen und neues Wissen daraus generieren, wenn man nicht ein Jahr warten müsste, bis der wissenschaftliche Verlag endlich mal das Buch über das Seminar X veröffentlicht hat, und zwar zu einem horrenden Preis.

      Gesellschaftlich, Volkswirtschaftlich ist das einfach eine Selbstbeschränktung die unsinnig ist.

      Professoren, die keine Honorare für die Bücher bekommen, erhalten sowieso ein Gehalt für ihre Lehre. Evt. müssten sie eben etwas mehr bekommen, aber warum sollen Sie Autorenhonorar erhalten, wenn sie Forschungsergebnisse veröffentlichen, die sie durch ihre Tätigkeit als Angestellter des Staates erlangt haben?

      Es gibt tausend Beispiele in dieser Art. Vielleicht sollte ich mal einen separaten Blogartikel dazu schreiben, wenn das so ein Problem ist zu verstehen ...

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  3. Hier sind mal ein paar schnell gegoogleten Links zum Thema Wissensblockade/Patentrecht/etc.:

    http://www.zeit.de/2004/18/M-Studien-Register
    http://www.greenpeace.de/themen/patente/nachrichten/artikel/neuer_patente_report/
    http://www.no-patents-on-seeds.org/de/information/aktuelles/jetzt-notbremsen-beim-europaeischen-patentamt-ziehen

    Mal abgesehen davon, daß Unternehmen wie Apple, Facebook und teilweise auch Google sich dagegen sperren, Einblick in ihre angehäuften Datensammlungen zuzulassen, die mit Sicherheit der Allgemeinheit zugute kämen.

    Ich beanspruche keinerlei Vollständigkeit und es sollte nur ein kleiner Anstoß zum Nachdenken darstellen...

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