Dieses Blog durchsuchen

Mittwoch, 11. April 2012

Warum ist es so schwer, im Internet sachlich zu diskutieren?


Eine Diskussion startet in der Regel mit einer Feststellung, Forderung oder auch Provokation. Daraufhin erfolgen eine Widerlegung der Argumente, und eine Antwort, die dann entweder dazu führt, dass derjenige, der die Diskussion begonnen hat, neue Gründe aufzeigt, oder eine Änderung der ursprünglichen Position vornimmt. Warum kann man eine solche zivilisierte Diskussion eigentlich so selten im Internet führen?


Im Internet beginnt oft schon die erste Reaktion mit Beschimpfungen, Unterstellungen, Beleidigungen. Oft werden haltlose Behauptungen aufgestellt, was der Andere bezweckte, oder, die neue Form des Mobbings, ein Diskutant wird einfach zum Troll erklärt, obwohl er sachlich und mit Fakten argumentiert hat. Vielleicht so viel argumentiert hat, dass es zu mühsam war, sich mit den Details auseinanderzusetzen.

ANONYMITÄT VERFÜHRT ZU VULGARITÄT?

Da gibt es Menschen, die gebildet sind, die im Umgang mit ihren Kindern und der Ehefrau liebevoll, mit Freunden rücksichtsvoll und mit Kollegen hilfsbereit umgehen. Aber sobald sie unter einem Nick, selbst wenn dieser allgemein bekannt ist, im Internet unterwegs sind, scheint sich der Stau von Jahrzehnten der Vulgarität zu entladen. Anonym entgleisen die Äußerungen dann manchmal vollkommen.

Es mag nicht direkt die Anonymität sein, denn es gibt ja eigentlich keine absolute Anonymität, sondern eher der Verlust einer Hemmschwelle. So wie Bomben und spielekonsolenartige Tötungen ganz offensichtlich die Hemmschwelle zum Töten gesenkt haben, hat möglicherweise das Fehlen eines direkten Augenkontaktes in einem Gespräch, die Hemmschwelle gesenkt.

Und so kommt es, dass auch Menschen, die eigentlich rational und angemessen reagieren könnten, abgleiten in beleidigende und verletzende Äußerungen. Und dabei sogar von Bewunderern ihrer „Coolness“ angehimmelt werden.

INFORMATIONSSCHWEMME

Wer sich in die Welt des Internets begibt wird schier erschlagen von Meinungen, Äußerungen, Informationen und Berichten. Sich ernsthaft auf eine Diskussion einzulassen ist nur schwer möglich, weil es sehr viel Zeit bedeutet. Also hinterlässt man seine digitale Duftmarke und verschwindet wieder, mit dem Gefühl, „es ihnen wieder gezeigt zu haben“. Nicht unähnlich einem Hund, der im fremden Revier schnell mal das Bein hebt.

DAS GEFÜHL ANGEGRIFFEN ZU WERDEN

Wenn jemand eine Position vertritt, die so gar nicht zu der eigenen Einstellung passt, fühlt man sich zunächst einmal von ihm angegriffen, und glaubt sich verteidigen zu müssen. Das wird verstärkt durch die Tatsache, dass man den anderen nicht sieht, seine Person in den eigenen Vorstellungen gebildet wird, und sich darin alles Teuflische manifestiert, was man glaubt in den Texten oder Bildern des Anderen zu erkennen. Man empfindet den Anderen als Gegner, als Feind. Und ein Feind muss erniedrigt werden, nicht bekehrt oder wissender gemacht.

Dieses Gefühl mag ebenfalls durch die Anonymität des Netzes verstärkt werden, weil besonders ängstliche Menschen, die auch nicht selten zu Aggressivität neigen, Inhalte oder Signale falsch verstehen. Fehlt doch dem Text die nonverbale Kommunikation, die uns das analoge Leben oft erleichtert.

Oft führen auch zu kurze Mitteilung, Abkürzungen oder Andeutungen, z.B. unter dem Zwang von 140 Zeichen, zu einer Abwehrreaktion, weil eine falsche Absicht angenommen wird.

DIE 15 SEKUNDEN GESELLSCHAFT

Die Medien schneiden ihre Sendungen immer kürzer, telegrammstilartige Nachrichten in Twitter haben Hochkonjunktur, nicht Inhalte, sondern Effekte führen zu Beifall und Einschaltquoten. Der coolste Spruch, die originellste Beleidigung, der schnellste Witz. Längere Texte ermüden, führen zu Ablehnung, Aggression. Sendungen boomen, in denen „Looser“ vorgeführt werden, Menschen erniedrigt werden, Menschen beleidigt werden. Die Nation als Voyeur.

In Erwartung von Angriffen, greift man dann selbst präventiv an. Auseinandersetzung dient nicht der eigenen Erkenntnis oder der von Anderen, sondern der Selbstdarstellung. Man will nicht überzeugen oder überzeugt werden, sondern „Eindruck machen“. 

Deutschland war niemals wirklich mehrheitlich ein Land der „Dichter und Denker“.  Aber heute erscheint Deutschland, fast wie einige Länder Asiens, wie ein Land der Narzissten. In dem jeder seine Facebookseite mit eigenen Fotos füllt, und vor seinen Anhängern mit schnellen Witzen punkten will.

WORAN ERKENNT MAN PROPAGANDA?

Da gab es eine hervorragende Antwort auf den Handelsblattartikel über 10x {angebliche} Autoren, in der jeder einzelne Unterzeichner gezielt angesprochen und argumentativ widerlegt wurde. Eigentlich sollte nun mit jedem Angesprochenen eine sachliche Diskussion möglich sein und entstehen. Wird in diesem Fall jedoch nicht, da es sich ursprünglich um einen Propagandacoup gehandelt hatte, und nicht um den Versuch des Beginns einer sachlichen Diskussion.

Und damit erkennt man auch schon, was Werbung oder Propaganda, und was ernsthafte Suche nach einer Lösung oder einem Konsens unterscheidet: Der Versuch, sich mit sachlichen Antworten ernsthaft auseinander zu setzen. Wenn keine Reaktion auf sachliche Argumente folgen, hat der Beginner der Diskussion kein wirkliches Interesse an Auseinandersetzung über ein Thema. Ganz offensichtlich zu erkennen an den Kommentaren der Massenmedien, die in erster Linie dem Sammeln von Klicks dienen, aber nicht der Auseinandersetzung mit dem Leser. Aber wenn auf Argumente mit unflätigen, herabsetzenden oder unsachlichen Beschimpfungen reagiert wird, hat der Antworter auf eine Bemerkung keine wirkliche Lust auf Auseinandersetzung, Wissensvermehrung oder –verbreitung. Dann geht es ihm ganz einfach um „niedrigere“ Beweggründe.

WAS IST DER UNTERSCHIED ZU FRÜHER?

Streitgespräche oder Briefwechsel des Streits gehören zur Weltliteratur. Man kann Argumente verfolgen, Entwicklungen beobachten und aus Freundschaften Feindschaften entwickeln sehen. Aber wenn wir die großen Briefschreiber mal dahin gestellt sein lassen, gab es natürlich früher auch Auseinandersetzungen. Aber diejenigen, die damals vergleichbar waren mit denen von manchen heutigen „Intellektuellen“ im Internet, fanden damals als Prügeleien zwischen Jugendlichen verfeindeter Bauern-Dörfer statt. Streit über politische und gesellschaftliche Fragen auf einem intellektuellen Niveau war hart, manchmal auch verletzend, aber am Ende ging man gemeinsam in eine Kneipe und betrank sich, oder man setzte sich vor dem VW-Bus ans Lagerfeuer und begann zu streiten, wer die besseren Lieder kennt. Man nahm sich Zeit nach dem Streit und war sich auch physisch nahe.

Mehr als einmal habe ich in den letzten Jahren einem Diskutanten vorgeschlagen, sich im Realleben zu treffen. Entweder gab es keine Reaktion oder eine schroffe Ablehnung.

GEHT UNSERE DISKUSSIONSKULTUR KAPUTT?

Angeblich müsse die Anonymität aufgehoben werden, damit unsere Diskussionskultur nicht verloren geht. Mit dieser Begründung gibt es Bemühungen in konservativen Kreisen, die Anonymität im Internet aufzuheben. Eine fatale Entscheidung, würde doch dadurch der freie Fluss von Meinungen und Informationen in politischen und gesellschaftlichen Streitfragen sofort zusammen brechen. Die meisten Menschen würden sogar noch weniger als im Realleben erklären, was sie wirklich denken. Denn „das Internet vergisst nicht“ und es ist transparent für jeden, auch für den Chef, den Nachbarn oder die Schwiegermutter. Eine erzwungene Auflösung der Anonymität wäre ähnlich katastrophal wie im Realleben der Zwang für Journalisten, jeden Informanten, auf dem ein Beitrag basiert, namentlich zu nennen.

Aber eine ungehemmte Fortsetzung von Obszönität und Vulgarität im Netz wird einen vergleichbaren Einfluss haben wie die Aufhebung der Anonymität: Menschen werden ihre Meinung nicht mehr offen aussprechen.

Bleibt nur zu hoffen, dass der so oft beschworene Selbstreinigungsmechanismus, mit zunehmender Teilnahme von eigentlich analogen Menschen an Internetdiskussionen, zu einem effektiven Selbstreinigungsprozess führt. Zu einem Prozess, der zu einem Miteinander, statt einem Gegeneinander führt. Ein Miteinander, in dem Aggressivität, Vulgarität und Obszönität zu Recht ebenso geächtet werden wie im wirklichen Leben.

WARUM ICH FÜR DISKUSSIONSKULTUR EINTRETE

Vor ungefähr 10 Jahren, ich war zu diesem Zeitpunkt Freelancer und in Asien, unterhielt ich mich mit einem Bekannten über ein Land, ein Thema. Ich glaubte ich wäre informiert und hatte alle Begründungen und Tatsachen parat, die die meisten, sich für informiert haltenden Ausländer in diesem Land genannt hätten. Doch dann wurde mir Stück für Stück meiner heilen Welt eingerissen. Zum Schluss der Diskussion lieh mir der Bekannte, der heute noch ein Freund ist, ein Buch. Jedes Mal wenn wir über Skype reden, erwähne ich es. Es war der Beginn einer wahren Leseorgie von Büchern und im Internet. Und es stimulierte mich dazu, über 10.000 Seiten zu dem Thema auch selbst zu schreiben. Es war ein schmerzhafter aber auch unglaublich befriedigender Vorgang. Nur ein paar hundert Menschen nahmen davon Notiz. Aber gleichzeitig erlebte ich, wie befriedigend es sein kann, Wissen zu sammeln und zu vermitteln. Viel befriedigender als dem „großen Coup“ hinterher zu laufen.

Seitdem bin ich eigentlich immer offen für neue Erkenntnisse, auf der Suche nach Missverständnissen in meinem Weltbild, oder nach der Chance, jemanden auf seinen Irrtum aufmerksam zu machen. So wie mir einmal die Augen über ein Thema geöffnet wurden. Aber ich frage mich heute, ob so etwas in Internet möglich ist, oder nur in der analogen Welt.


1 Kommentar:

  1. Wow
    Es ist spät und ich bin müde, aber ich möchte trotzdem schnell noch einen Kommi hinterlassen. Dieser Artikel spricht mir aus der Seele und ich teile die dort geschilderten Erfahrungen und Ansichten.
    Ich denke es ist durchaus auch im Internet möglich aufzuklären, zu informieren und aufrichtig miteinander zu kommunizieren. Entscheidend dabei ist wie sehr mein Gegenüber sich darauf einlässt...

    Und jetzt sage ich Gute Nacht ! ;-)
    Liebe Grüsse

    AntwortenLöschen