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Donnerstag, 26. November 2015

UKRAINE, KRIM, die EU, NATO und Russland-Teil 10

Sakwa erklärt in seinem Buch, was das Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU für Russland und das Land selbst bedeutet. Und wie drei Strömungen im Land um den politischen Weg rangen, dabei aber immer schneller auf eine wirtschaftliche Katastrophe zusteuerten, ohne dass allerdings die EU-Assoziierung irgendeine Chance bot, die Energiefrage oder andere existentiellen Wirtschaftsprobleme kurz- bis mittelfristig zu lösen.


Sakwa beschreibt in seinem Buch die drei Pole der ukrainischen Krise. Die orangene "Revolution", die den Anschluss an die NATO und EU suchte, die blaue Bewegung, die einen pluralistischen Staat und Bewahrung des Status Quo anstrebte, und die goldene Fraktion, die sich aus den in sich zerstrittenen Interessen der verschiedenen Oligarchen zusammen setzte. Die Ukraine war nach Sakwa eine der wenigen Demokratien in der post-sowjetischen Ära, aber beherrscht durch ein oligarchisches System, das Korruption förderte, und die Legitimität der Elite unterminierte.

Die Oligarchen und ihre Herrschaft dürfte verantwortlich dafür sein, dass das Land eine wirtschaftlich desaströse Entwicklung genommen hatte. Sakwa beschreibt den Zustand:
"...Im Jahr 1992 war das Pro-Kopf-Einkommen höher als das in Lettland oder Rumänien, und vergleichbar mit dem Polens, aber 2013 hatte Polen das Einkommen verdreifacht, während die Wirtschaft der Ukraine immer noch kleiner war als im Jahr 1991. 2012 betrug der BPI des Landes nominal 176 Milliarden $, oder 336 Milliarden $, gemessen am globalen Preisniveau (bzw. ausgedrückt als Kaufkraftparität). Heute sind die Länder, die der Ukraine am ähnlichsten sind, der Irak und El Salvador. ..." (Seite 73)
Dabei muss man wissen, dass die Ukraine einmal über ein großes Potential verfügte. Das Land war der sechst-größte Exporteur für militärische und Transport-Flugzeuge, und besitzt eine hochentwickelte Raketen-Industrie. Seine Schiffswerften gehören zu den modernsten in der Welt, die sogar Erdgastanker produzieren können. Aber keine der post-sowjetischen Regierungen, also weder die orangene, noch die blaue, hatte ernsthaft am großen Problem des Landes etwas geändert: dem enormen Energieverbrauch und der Abhängigkeit von ausländischen Energieträgern. Alle Regierungen nutzten stattdessen die riesigen Gaseinkäufe, um in die eigene Tasche zu wirtschaften, so jedenfalls einige politische Beobachter. Sakwa fasst zusammen:
"... Die endlosen Kriege der Oligarchen, und die Selbst-Bereicherung der Elite, waren deshalb begleitet von einem sinkenden Lebensstandard, verschlimmert noch durch die Anfangsphase eines ‚verschleierten Autoritarismus‘. ..." (Seite 73)
Und später werden wir noch eingehend lesen können, dass auch die "Revolution" oder der "Coup", je nach Sichtweise, von 1914, ebenfalls nur einen Wechsel IN der Oligarchenherrschaft verursacht hatte, mit der Besonderheit, dass nun die USA maßgeblichen Einfluss auf die Politik nahm.

Und in dem immer heftiger werdenden Kampf der Oligarchen, in der Phase vor dem gewaltsamen Machtwechsel in Kiew, wandte Janukowitsch immer mehr autoritäre Methoden an.
"... Plumpe Methoden der physischen Nötigung wurden angewandt, die Yanokovych schon lange in Donezk eingesetzt hatte, die aber auf der Ebene des ganzen Landes neu waren, und das alles übertraft, waas man in Putins Russland je gesehen hatte. Freedom House degradierte die Ukraine im Jahr 2011 aus der Kategorie ‚frei‘ in die ‚teilweise frei‘, und eine ganze Reihe von Menschenrechtsorganisationen brachten ihre Sorgen zum Ausdruck. ..." (Seite 74)
Die Desillusionierung in der Gesellschaft nach der Erlangung der Unabhängigkeit, brachte den rechtsextremen Parteien immer mehr Zulauf.
"... Wie bereits berichtet, gewann die Swoboda, nachdem sie ihre Rhetorik in eine urbanere, prodemokratischere Sprache, für den, den NATO-Beitritt befürwortenden Teil der Bevölkerung, geändert hatte, 10,4% der Sitze in Wahlkreisen mit mehreren Mandaten, was ihnen 25 Sitze verschaffte. Die charakteristische Richtung der Geopolitik der Ukraine bedeutete, dass die typische Haltung solcher Parteien in Westeuropa - anti-EU und anti-NATO - [in der Ukraine durch die rechtsextremen Parteien] in sein Gegenteil verkehrt wurde. Dies ist verständlich, wenn man es durch das Prisma meines Modells betrachtet, in dem monistische  Nationalisten die Agenda eines ‚Ausgedehnten Europas‘ im Gegensatz zu Beziehungen mit Russland, vorziehen. Dieser Effekt wurde verstärkt durch die großen Probleme der Regierungsführung, vor dem das Land stand, und dem Abrutschen in den Autoritarismus.  ..." (Seite 74)
In diesem Zusammenhang bespricht Sakwa das Assoziierungsabkommen an, das der Grundstein der Anstrengungen der EU war, mit der die Ukraine in das ausgedehnte Europa integriert, und aus dem russischen Einflussbereich herausgebrochen, werden sollte.
"... Drei Jahr lang hatten sich die Verhandlungen auf einem hohen technokratischen Niveau bewegt, und der Text war bis zum letzten Moment nicht in Ukrainisch verfügbar. Die EU-Traditionen beibehaltend, war es eine heimliche Integration. Im Kern der Vereinbarung stand die raumgreifende Liberalisierung des Handels der EU mit der Ukraine, wobei die ukrainische Wirtschaft tarifäre Schwellen abbauen, und in angemessener Zeit abschaffen muss, ebenso wie nicht tarifäre Barrieren, um offener für Güter und Dienstleistungen aus der EU zu werden. Anders als in den vergleichbaren Vereinbarungen mit den zentral- und osteuropäischen Staaten, gab es kein Versprechen auf Mitgliedschaft. Die Ukraine würde keinen ‚Kandidatenstatus‘ erhalten, und deshalb war die AA/DCFTA eine eher zweitrangige Vereinbarung, die viel Peitsche, aber wenig Karotten, enthielt. Für ihre Befürworter wurde das kompensiert durch die Symbolik, die der Vertrag bot: eine ‚zivilisatorische‘ Alternative zu Russland als Teil der Wahl des Landes ‚für Europa‘. ..." (Seite 74)
Sakwa zitiert dann den Präsidenten eines der US-Nicht-Regierungsorganisationen, die intensiv an so genannten Regime Changes, also Regierungswechsel zugunsten USA-freundlichen Strömungen, weltweit arbeiten:
"...Carl Gershman [erklärte], dass die Ukraine den ‚größten Preis‘ symbolisieren würde, aber darüber hinaus eine Möglichkeit wäre, Putin ‚als Verlierer darzustellen, und zwar nicht nur im nahen Ausland, sondern in Russland selbst‘. (48) (Seite 74)
Aber das Abkommen mit der EU war viel mehr als ein Freihandelsabkommen. Die Ukraine sollte 100.000 Seiten Gesetze und Regulierungen übernehmen, was darauf abzielte, Russland regulativ auszuschließen. Noch wichtiger aber waren die Regelungen zur Außen- und Sicherheitspolitik, die das Abkommen enthielt. Sie sollte vollkommen auf Linie mit der NATO gebracht werden. Das war der Grund, warum dieses Abkommen für Russland eine existentielle Bedeutung erhielt, denn wie Sakwa bemerkt, war die nächstliegende Grenze der Ukraine gerade einmal 480 km von Moskau entfernt.
"...Die Ukraine bedeutet für Russland eine Frage des Überlebens, abgesehen von einer tausendjährigen gemeinsamen Geschichte und Zivilisation, während für Brüssel oder Washington es nur ein weiteres Land auf dem Marsch ‚des Westens‘ ist. Das russische Militär hat aus Tradition heraus den Raum genutzt, um strategische Tiefe zu erhalten, und sein Vorteil würde nun verloren gehen. Während die ‚europäische Wahl‘ zu treffen, langfristig vielleicht helfen würde, die Regierungsführung zu verbessern, die Wirtschaft anzukurbeln und die Korruption zu reduzieren, bedeutete sie aber auch, dass sie ihre dunkle Vergangenheit verlassen muss um ein Teil der ‚zivilisierten Welt‘ zu werden. Mark Adomanis hält fest, dass ‚das Assoziierungsabkommen in Wahrheit […] ein hochtechnokratisches Stück der wirtschaftlichen Liberalisierung ist. Es gibt keinen ‚europäischen‘ weg um Gas zu ersetzen, und keinen ‚zivilisierten‘ Weg um Pensionen zu kürzen.‘ (49) ... " (Seite 75)
Die EU-Politiker hatten vollkommen ignoriert, dass die Ukraine in eine andere wirtschaftliche Gemeinschaft integriert war. Russland war der größte Handelspartner der Ukraine, und durch die EU-Angliederung war dieser Handel naturgemäß gefährdet. Und Russland kaufte Güter in der Ukraine, die in der EU keinerlei Marktchancen hätten. Ohne dass die EU-Beamten einen Gedanken daran verloren.
"...Die ukrainische und russische Wirtschaft sind hochgradig komplementär, waren sie doch gemeinsam für viele Jahrhunderte ein Teil gewesen, und teilten sie doch die Muster der sowjetischen Industrialisierung. Die Ukraine stellte Exportgüter her, wie Bahnausrüstung und eine ganze Reihe militärischer Teile, insbesondere Hubschraubermotoren, die in der Motorfabrik Sich in Zaporozhia produziert wurden. Praktische alle Hubschrauber, die in Russland hergestellt werden, verwenden diese Triebwerke, ebenso der größte Teil der afghanischen Hubschrauberflotte. Die vorgenannte Fabrik in Mykolajiw ist der einzige Produzent von Triebwerken für die russische Marine. Russland musste große Anstrengungen unternehmen, um die Modernisierung des Antonow-Transport-Flugzeuges, in Kiew, mit zu finanzieren, und noch lange nicht der letzte Punkt ist Russlands SS-18 (Voevoda, von der NATO ‚Satan‘ genannt) ballistische Interikontinentalrakete (ICBM) die in der Fabrik Yuzhmash in Dnipropetrowsk produziert und gewartet werden, auch wenn diese Kategorie von Raketen der Außerdienststellung näher kommen, und durch eine neue Klasse ersetzt wurden. Die Region des Donezbeckens macht alleine ein Viertel aller ukrainischen Produktionsexporte aus, aber die Region wurde durch die globalen Preisentwicklungen heftig getroffen, schon vor dem Zusammenbruch des Janukowytsch-Regimes...." (Seite 75)
Um noch einmal die Wichtigkeit des Handels mit Russland zu beschreiben, die von den EU-Technokraten vollkommen ausgeblendet worden war: Russland hatte im ersten Quartal 2014 21,7% des ukrainischen Außenhandelsumsatz ausgemacht.

Das wichtigste Element der EU-Annäherung aber war, aus Sicht Russlands, sicher die Eingliederung des Landes in die europäische Sicherheitsstruktur, die aus einem neutralen Land, plötzlich ein Land machte, durch das ein Staat, der Russland zum Gegner erklärt hatte, unmittelbar vor seinen Grenzen stationiert war.
"...Ein Anzahl von Klauseln in dem Assoziierungsvertrag weckten zwangsläufig Bedenken im Kreml. Artikel 4 spricht von ‚der Absicht des politischen Dialogs‘, während der erste Teil betont, dass
„politischer Dialog in allen Gebieten gemeinsamen Interesses, sollten zwischen den Parteien weiter entwickelt und gestärkt werden. Dies wird eine graduelle Konvergenz der Außen- und Sicherheitspolitik fördern, mit dem Ziel der immer engeren Aufnahme der Ukraine in die europäische Sicherheitszone.“
Artikel 7 ruft auf zu einer Konvergenz der Außen-, Sicherheits-, und Verteidigungspolitik, während Artikel 10 sich beschäftigt mit ‚Konflikt-Prävention, Krisenmanagement und militärisch technologische Kooperation’ und in Teil 3 feststellt, dass ‚die Parteien das Potential der militärischen technologischen Kooperation explorieren sollen. Die Ukraine und die Europäische Verteidigungs-Agentur (EDA) wird enge Kontakte einrichten, um die militärischen Fähigkeiten zu verbessern, darunter auch technologische Angelegenheiten.‘ So behauptete die EU Exklusivität in Sicherheitsangelegenheiten, die operativ werden würde, sobald die Ukraine beim Gipfel in Wilna unterschrieben hatte. Auch wenn es in der klassischen europäischen Sprachregelung von Frieden und Entwicklung verklausuliert war, verkündete die Vereinbarung in Wirklichkeit formal die Eröffnung des Streits mit Russland über das Land zwischen ihnen. Die EU ‚glitt unwillkürlich in den Wettbewerb mit Russland‘. (51) Dadurch wurde ein weiterer Schritt der EU unternommen, weg von seiner Behauptung ein Friedensprojekt zu sein, hin zur Verewigung von Konflikten in neuen Formen, was die Glaubwürdigkeit des europäischen Projektes als Ganzes unterminiert.
..." (Seite 76)
Und wieder einmal erkennen wir, wie lächerlich die politischen Nobelpreise sind. Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an einen US-Präsidenten, der einen "schmutzigen Krieg" in über 100 Ländern führt, weltweit nach belieben bombt und drohnt, hatte die EU als "Friedensprojekt" den Preis erhalten. Und an dem Beispiel Ukraine zeigt sich, wie fragwürdig diese Preisverleihung war. Hatte die EU stets jede Mitwirkung Russlands an der Gestaltung des EU-Assoziierungsvertrages zurückgewiesen:
"... so wie z.B. Barroso durch eine Nachrichtenagentur erst am 29. November 2013 mit den Worten zitiert wurde: ‚Russlands Teilnahme an Gesprächen über ein Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine sind vollkommen unakzeptabel‘. In diesem Zusammenhang muss man Moskaus außerordentlichen Aufwand betrachten, zu dem auch verschiedene Sanktionen und Einfuhrsperren zählten, mit dem versucht wurde, Kiew von einer Unterzeichnung des Abkommens abzuhalten. ..." (Seite 76)

---> Frontline Ukraine - Crisis in The Borderlands, Richard Sakwa, I.B. Tauris, London, 2015 (Englisch)

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