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Freitag, 13. November 2015

UKRAINE, KRIM, die EU, NATO und Russland-Teil 03

Sakwa erläutert in seinem Buch die unterschiedlichen Ideen eines nationalistischen und eines pluralistischen Staates in der Ukraine, und eines erweiterten Europa und eines Groß-Europa. Er zögert aber, einen Schritt weiter zu gehen, und Schlüsse zu ziehen, das überlässt er vorsichtshalber dem Leser.
Es konnte die westlichen Politiker kaum überrascht haben, dass das Modell des restituiven Nationalismus höchst intolerante Auswüchse entwickeln wird. Trotzdem förderten sie sie, was Sakwa, mehr oder weniger als "Versehen" der westlichen Politik darstellt. Dabei weist er ausdrücklich darauf hin, was jeder, Verantwortung tragende Politiker, in der EU, hätte wissen müssen:

"... In extremen Fällen, übernimmt er Aspekte des integralen Nationalismus, der durch die klassischen faschistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gefördert wurde. Das war der Fall in der militant nationalistischen Swoboda-Partei. Die Gründung als Sozial-Nationale Partei der Ukraine (SNPU) 1991 durch Oleg Tjagnibok, Andrij Parubij und anderen, in Lwiw, war eine offensichtliche Verbeugung vor Hitlers NSDAP. Die Gründergruppe war gekennzeichnet durch ‚seinen offen revolutionären Ultra-Nationalismus, seiner Forderung nach einer gewaltsamen Machtübernahme im Land, und seiner Bereitschaft, Russland für alle Missstände der Ukraine verantwortlich zu machen.‘ Es war die erste Partei, die ‚Nazi Skinheads und Fußball Hooligans‘ rekrutierte.‘ (37) Im Jahr 2004 wurde der Name der Partei in Swoboda geändert, die Neo-Nazi Wolfsangel wurde als offizielles Zeichen, durch einen stilisierten Dreizack (das Emblem der Ukraine), der drei Finger darstellt, ersetzt, und Tjagnibok wurde einziger Vorsitzender (während Parubi in die Partei „Unsere Ukraine“ von Juschtschenko eintrat). Bis zum Jahr 2013 verteilten sie fröhlich Nazi-Traktate. ... Antisemitismus war in der Partei tief verwurzelt, aber die Intensität ihrer Russophobie war noch wesentlich stärker. Die Swoboda ist mit Frankreichs Front National und der italienischen neo-faschistischen Gruppe Fiamma Trikolore verbunden...." (Seite 21)
Die letzte Bemerkung soll wohl darauf hinweisen, dass diese Partei so überhaupt nichts mit den staatstragenden Kräften des Westens zu tun hätte. Wobei allerdings bemerkenswert ist, dass es im März 2015 zum Bruch mit einigen rechten Parteien kam, insbesondere zum Bruch mit der Front National, nachdem sich diese positiv zum Selbstbestimmungsrecht der Krim-Bevölkerung und deren Sezession und Eingliederung der Krim in die Russische Föderation ausgesprochen hat. Sakwa entlarvt dann auch das deutsche Medien-Narrativ, dass neo-faschistische Kräfte keinen politischen Einfluss in der Ukraine spielen würden.
"... Eine Welle radikaler nationalistischer Parteien errang Fortschritte bei Wahlen, insbesondere die Swoboda Partei. Viacheslav Likhachev sagte richtigerweise ‚den endgültigen Ausbruch des rechten Extremismus aus der marginalisierenden Nische, die sie seit den ersten 20 Jahren der politischen Geschichte der unabhängigen Ukraine besetzt hatte‘, voraus. (39). In der Parlamentswahl vom 28. Oktober 2012 gewann die Swoboda 10,44% im proportionalen Teil der Wahl, wodurch sie 25 Listenkandidaten in die Rada entsandte, und weitere 10 aus Einzelmandat-Distrikten. Das Parlament wurde zur Bühne ‚für den Kampf gegen Jidden, Iwans und anderen Unrat‘ (40). ..." (Seite 22)
Der Autor erklärt dann, warum sich auch die neo-faschistischen Parteien der Ukraine für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine aussprechen. Für sie waren weniger die institutionelle und normative Struktur der EU attraktiv, sondern die erweiterte Repräsentation des politischen Raumes, in einem größeren Europa. Die Erweiterung Europas in Richtung der post-sowjetischen Regionen und der Ukraine, bedeutete, russischen Einfluss zurück zu drängen, und die geopolitischen Ansprüche Russlands zu beschränken.
"... Mit anderen Worten bedeutete die EU-Mitgliedschaft für die Swoboda und ihresgleichen nicht die Verbundenheit mit den normativen Werten der Menschenrechte und guter Regierungsführung, und vor allen Dingen nicht mit der Logik der Überwindung von Konflikten, sondern war Verbunden mit der Erwartung einer westeuropäischen Politik, verstärkt durch die Euro-Atlantische Sicherheitsgemeinschaft. Die Nationalisten favorisierten die EU-Mitgliedschaft nicht wegen deren Prinzipien, sondern sie verkörperte eine Menge an Interessen, die zunehmend jene Russlands konterten. ..." (Seite 22)
Leider hält der Autor hier an, statt darauf hinzuweisen, dass es auf der anderen Seite, der der EU-Bürokratie genau so aussah. Um den eigenen Machtanspruch auszudehnen, und den Einfluss Russlands einzuschränken, war man sogar bereit, sich der Schmuddelkinder der Politik in der Ukraine zu bedienen. Er bleibt bei der einseitigen Beschreibung der Beziehung der ukrainischen Nationalisten, wenn er schreibt:
"... Die Russophobie des monistischen ukrainischen Nationalismus erkennt nicht an, dass Russland sowohl Opfer als auch Täter war. Russland wurde gleichgesetzt mit seiner stalinistischen Vergangenheit (so wie Großbritannien für viele mit verbliebenen schwarzen Flecken des Kolonialismus gleichgesetzt wird). Aber eine einseitige Verurteilung ehemaliger ‚Brudernation‘ in der UDSSR hilft nicht, besonders da jedes dieser Länder seine Rolle bei den Verbrechen der Bolschewiken gespielt hatte...."(Seite 22)
Interessant sind dann die Personalien, die er erwähnt, nämlich Chruschtschow und Breschnew, beide mit Wurzeln in der Ukraine. Und er schreibt den europäischen Politikern dann ins Stammbuch, was die eigentlich hätten wissen und fördern müssen:
"... Selbst wenn man akzeptiert, dass die ukrainische Nation eine eigene, Jahrtausend alte Tradition hat, unterschiedlich zur, aber ergänzt durch, die Geschichte der russischen Nation, so müssen doch die beiden Länder, die politische Frage der Grundlage der Beziehungen zwischen den Nationen, noch klären. Das post-koloniale Modell betont per Definition die Selbstbehauptung des früher unterworfenen Elements, aber dies ist nur die andere Seite der Medaille, die jener gegenüber steht, die die ‚brüderliche‘ Natur der Beziehung zwischen den Beiden Ländern behaupten. Der eine betont die Unterschiede, der andere die Gemeinsamkeiten, wobei doch ‚normale‘ Beziehungen am Ende nur errichtet werden können, indem beide Ansichten kombiniert werden..." (Seite 23)
Sakwa kommt dann auf die pluralistischen Aspekte der staatlichen Entwicklung der Ukraine zu sprechen, die sich jedoch, auch wegen fehlender Unterstützung aus dem Westen, nie durchsetzen konnte. Er beschreibt das Wirken von Schornowil, der schon in der Sowjet-Union ein Dissident gewesen war. Dann aber von "gewendeten" Kommunisten ins Abseits gedrängt wurde. (Ähnlichkeiten mit der deutschen Geschichte erscheinen rein zufällig.)
"...Seine Vision eines widergeborenen ukrainischen Staates war inkludierend und multidimensional, jedoch war dies überschattet durch die ‚Nationalisierer‘ und Vertreter eines engeren Monismus. Tschornowil verbrachte die 1990er in relativer Bedeutungslosigkeit, bereitete sich aber auf ein Comeback vor, als er in einem verdächtigen Verkehrsunfall im Jahr 1999 getötet wurde...." (Seite 23)
Sakwa geht nach einigen Umwegen weiter auf die pluralistischen Ideen in der Ukraine ein:
"... Für die Pluralisten stellen vielfältige religiöse und linguistische Orientierungen keine Gefahr für den Staat dar, wie die Nationalisten es sehen würden, sondern sind im Gegenteil eine Chance: Die Unterschiedlichkeit trägt zu einer reichen und vielfältigen Kultur bei. Das bedeutete nicht notwendigerweise, die Ukraine in einen föderalen Staat umzuwandeln, aber es forderte eine Entwicklung, die zu einer Art Konkordanzdemokratie führen sollte, in der den Stimmen der vielfältigen Identitäten, eine gewisse verfassungsmäßig geschützte Form des Schutzes gewährt wurde.
Das pluralistische Modell argumentierte, dass alle Menschen, die die derzeitige Ukraine ausmachen, einen gleichen Anteil an der Entwicklung des Landes haben, was in Opposition zur Welle des Nationalismus stand, ohne aber einige seiner Bedenken zurück zu weisen. Zum Beispiel würden nur wenige der Notwendigkeit widersprechen, dass spezielle Programme notwendig sind, um die ukrainische Sprache wieder zur zentralen ukrainischen Staatssprache zu machen, darin eingeschlossen solche, die sicher stellen, dass sie Kindern beigebracht wird, und in eigenen und weiterführenden Lehrbetrieben, dem Geschäftsleben und der Regierung, genutzt wird. Das würde nicht notwendigerweise Sprachtests für Beamte ausschließen, um sicher zu stellen, dass die Ukraine nicht durch Russisch überrollt wird - aber dieser Gedanke schließt auch aus, dass der Staat offiziell einsprachig wird. Eines der Reichtümer der Ukraine ist gerade seine Vielfalt, und, soweit die Pluralisten betroffen sind, gibt es keinen Grund, warum das nicht verfassungsrechtlich geschützt werden sollte. Die spezielle Grenzsituation des Landes trägt zu seiner Komplexität bei, nicht als zu bewältigendes Problem, sondern als Geschenk, das gefeiert werden sollte. Deshalb verurteilen die Pluralisten die Nationalisten, weil diese nicht in der Lage sind, eine politische Form zu definieren, in der die Vielfalt in eine verfassungsmäßige Ordnung eingebracht wird. ..."
(Seite 24)
Man wundert sich, wenn man das liest, ist es doch exakt, bis ins Extreme getrieben, die Politik der Grünen in Deutschland, sieht man ihre Politik im Zusammenhang mit der Immigranten- oder Flüchtlingsfrage. Wie kann es sein, dass einerseits ein solcher pluralistischer Ansatz in Deutschland extrem vehement verfolgt wird, andererseits in der Ukraine genau die Kräfte bekämpft werden, die eine solche Idee realisieren wollen?

Der Grund, so drängt sich auf, könnte in der regionalen Ausprägung der beiden widersprüchlichen Ideologien in der Ukraine liegen. Sakwa schreibt:
"...Die monistische Ansicht ist offensichtlich stärker in den westlichen Teilen des Landes, während der pluralistische Ansatz stärker im Osten und Süden, vertreten ist. Es gibt auch eine überschneidende  temporale Dimension, d.h. verschiedene Darstellungen der Vergangenheit und der Zukunft. So wie der Ruf nach einer pluralistischen Staatlichkeit laut wird, neigt der Süd-Osten auch zu neo-sowjetischen Gefühlen, erinnert sich an die guten Zeiten der Sowjet-Ära, als es zahlreiche Jobs gab, und die staatliche Fürsorge, wenn auch gering, zumindest garantiert war., und als die Grenzen zwischen Russland und der Ukraine weit offen standen, was zu zahlreichen grenzüberschreitenden Ehen führte, und einen echten ‚Sowjet‘-Menschen im Ansatz entstehen ließ...." (Seite 24)
Spinnt man diese Idee weiter, hat die westliche Politik, und auch die der deutschen "staatstragenden" Parteien von vornherein eine Spaltung der Ukraine in Kauf genommen, wenn nicht gefördert. Sakwa deutet das so an:
"... Der Regime-Change im Februar 2014 spielte sich vor dem Hintergrund einer bereits intensiven Spaltung des Landes ab. Wie eine kürzlich erschienene unmissverständliche Studie es ausdrückte: ‚Die Kultur, Sprache und das politische Denken der westlichen Ukraine war dem Rest der Ukraine übergestülpt worden.‘ Das angebliche Ziel ist die Einheit des Landes herzustellen,
„... aber tatsächlich ist die Absicht, die russischsprachige Bevölkerung des Landes zu erniedrigen und unterdrücken. Die radikalen Nationalisten der westlichen Ukraine, für die die Zurückweisung Russlands und seiner Kultur ein Grundsatz der Überzeugung darstellt, beabsichtigen den Rest des Landes unter ihre engstirnige Vision zu zwingen....“ (43)" (Seite 25)
In seinem 2. Kapitel greift Sakwa noch einmal zurück in die Geschichte. Er beschreibt, warum die Ukraine zu einem "Grenzland" zwischen Ost und West wurde. Und wie heute zwei aktuelle und potentielle Ordnungen in Europa interagieren und aufeinander prallen, und dabei einen Wettbewerb um das Grenzland entfacht haben. Leider geht er hier nicht darauf ein, wer diesen Wettbewerb begonnen hat, wird doch im Westen das Narrativ verbreitet, es wäre der überwiegende Teil der Bevölkerung gewesen, der den Wunsch gehabt hätte, der NATO und EU beizutreten, ohne dass die EU oder NATO etwas dazu beigetragen hätte.

In diesem Kapitel beschreibt Sakwa dann die beiden verschiedenen Visionen eines vereinten Europas.
"... Die Vision eines ‚ausgedehnten Europas‘ wird mit dem Jahr 1989 in Verbindung gebracht, als die Berliner Mauer eingerissen wurde, und die geopolitische Fluidität in die europäischen Angelegenheiten zurückkehrte. Das Sowjet-Imperium brach zusammen, und die früheren kommunistischen Länder in Zentral und Ost-Europa erhielten wieder Autonomie und Souveränität. Für die meisten war der Beitritt zum ausgedehnten Europa die natürlich Wahl. Es ist das Modell, das sich auf Brüssel fokussiert, mit konzentrischen Ringen, die vom westlichen europäischen Kernland die europäische Integration verfolgte. Europäische Integration in den 1950er Jahren, war durch zwei fundamentale Prinzipien inspiriert gewesen: Die scheinbare Logik der Konflikte zu überwinden, allen voran dem Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland, und Sicherstellung eines gerechten Wohlstandes für die Bürger des Kontinents. Seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge durch die sechs Gründungsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft am 25. März 1957, wuchs die Gemeinschaft auf die Zahl von heute 28 Mitgliedern an, wobei die letzten Beitrittsländer aus dem Teil des Kontinents stammen, der früher kommunistisch war.
Als das kommunistische System im Herbst 1989 zusammenbrach, gab es in seiner Folge einen fundamentalen Konsens, in den Ländern wie Polen und der Tschechischen Republik, liberale Demokratie, Marktreformen und vor allen Dingen, ‚die Rückkehr nach Europa‘ voran zu treiben. Es gab örtliche Debatten, Rückschläge und Widersprüche, aber die alles überlagernden politischen, sozialen und geopolitischen Ziele, stellten sich erfolgreich auf. Die Beitrittswelle vom Mai 2004 beinhaltete nicht nur die Zentral- und Osteuropäischen Staaten wie Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Slowakei und Slowenien, sondern auch die baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen (zusammen mit der Republik Zypern und Malta). Im Jahr 2007 trat Bulgarien und Rumänien bei, und 2013 Kroatien. Dies war eine exemplarische Manifestation des Modells eines ‚ausgedehnten Europas‘, und dies brachte unzweifelhaft substantiellen Nutzen in die betroffenen Länder. Nicht weniger wichtig ist die Tatsache, dass es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Widerstand gegen die Erweiterung der EU von außerhalb gab. Der EU-Beitritt alleine stellte keine Bedrohung der Sicherheit Russlands dar, und erst später, als die NATO sich erweiterte, und die aggressive Verbreitung westlicher Demokratie vorantrieb, stieß die Expansion auf Widerstand. [Markierung hinzu gefügt]
Die Idee des ‚Groß Europa’s bevorzugt ein unterschiedliches Modell interner europäischer Politik. Statt konzentrischer Ringe, die von Brüssel ausgehen, durch die die äußeren Bereiche geschwächt werden, und trotzdem auf ein einziges Machtzentrum konzentriert, stellt es eine multipolare Vision dem gegenüber, mit mehr als einem Zentrum, und ohne den Beigeschmack eines einzigen ideologischen Stallgeruchs. Dies ist die pluralistische Darstellung eines europäischen Raumes, und er bezieht sich auf eine lange europäische Tradition: Die Vision einer pan-europäischen Einigung. Pläne für eine Integration des gesamten Kontinents haben eine lange Ahnen-Liste von Entwürfen. Richard Coudenhove-Kalergis Vorstellung eines ‚Pan-Europas‘ stammt aus der Zeit vor dem Krieg. Gaullistische Ideen eines weiteren europäischen Gebietes, vom Atlantik bis zum Pazifik, gehören ebenso dazu. Michail Gorbatschow’s Traum eines ‚gemeinsamen europäischen Hauses‘ transzendierte die Block-Politik des Kalten Krieges, die Idee von Nicolas Sarkozy, in Europa eine gemeinsames Gebiet,  ‚mit wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer‘ Zusammenarbeit mit der EU zu schaffen, sah einen Block von ‚800 Millionen Menschen, die den gleichen Wohlstand und die gleiche Sicherheit genießen‘ vor,(4) und der Waldai Club mit seiner Idee einer ‚Union von Europa‘, all diese Visionen geben der Erwartung eine Stimme.  ..." (Seite 27)
Aber keine dieser Visionen konnte sich seltsamerweise, trotz der eindeutigen Interessenlage der europäischen Staaten, gegen ein auf Brüssel und Washington zentriertes Teil-Europa durchsetzen.

Sakwa beschreibt jetzt auch noch einmal, wie Russland den Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte:
"...Sicher, für Russland kam ‚Demokratie‘ nicht nur zusammen mit dem Chaos der 1990er, dem Aufstieg der ‚Räuber Barone‘ bzw. Oligarchen, und einem wirtschaftlichen Niedergang, der alles überstieg, was irgendein Land während der großen Depression in den 1930er Jahren erlebt hatte, sondern vor allen Dingen mit einem Verlust des Groß-Macht-Status und des internationalen Einflusses...." (Seite 28)
Und er beschreibt, welche Rolle die Wiederaufnahme der Krim in das russische Staatsgebiet, für die Gesellschaft Russlands, im Rahmen der staatlichen Wiedergutmachung, der durch den Westen geförderten Raubzüge der Oligarchen, bedeutete:
"... Die Ausprägung des Widergutmachungsprogramm des Staates, war im März 2014 die ‚Widereingliederung‘ der Krim unter russische Jurisdiktion, was die Reaktion auf eines der tiefsten Traumata von Russlands Vorstellung seiner Territorien und seines nationalen Bewusstseins war...." (Seite 28)
Sakwa erklärt auch, warum die angeblichen "Angebote des Westens" für Russland eher eine Beleidigung sein mussten:
"... Russland sieht sich selbst als ‚Großmacht‘ und als Alternative, wenn auch nicht notwendigerweise als Gegner, sondern als zivilisatorischen und geopolitischen Pol in der Weltpolitik. Deshalb konnte Russland nicht einfach Teil des ‚ausgedehnten Europas‘ werden, der auf die EU fokussiert ist, schon gar nicht konnte er sich der euro-atlantischen Sicherheits-Gemeinschaft unterordnen. Es versuchte zwar, beiden Verbindungen beizutreten, aber seine Größe, Ungeschicklichkeit, sein Autonomiebestreben, und seine Sehnsucht nach Großmacht-Status, verhinderten eine einfache Integration. An seiner Stelle repräsentierte die Idee eines ‚Groß-Europas‘ einen Weg, was unter diesen Umständen eine komplexen und schwierigen Beziehung als der Beste erschien...." (Seite 28)
Sakwa geht dann auch darauf ein, dass die europäischen Politiker problemlos die Menschenrechtsverletzungen der eigenen Mitgliedsstaaten entschuldigen, nicht aber die Russlands.
"... Selbst Estland und Lettland, jetzt Mitglieder der NATO und der EU, können ernsthafter Menschenrechtsverletzungen beschuldigt werden, verstoßen gegen Bürgerrechte und tolerieren rechtsextremistische Bewegungen, an der Grenze zum Faschismus...." (Seite 29)
Dann beschreibt der Autor, wie Russland, je weiter es sich von einem auf Brüssel und Washington zentrierten "ausgedehnten Europa" entfernt, immer mehr Gewicht auf die Idee eines "Groß-Europas" legte. Dabei hatte schon Jelzin hatte darauf hingewiesen, dass Europa ohne Russland kein Europa wäre, sondern nur ein Artefakt. Und genau hier muss man die Entscheidungen westlicher Politiker hinterfragen. Denn nichts wäre vielversprechender, als ein Europa MIT Russland. Wie Sakwa beschreibt:
"... Mit anderen Worten war Russland ein weites und relativ unterentwickeltes Land, reich an natürlichen Rohstoffen, während Westeuropa über hochentwickelte Technologien verfügt, aber Energie und andere Ressourcen benötigt. Die beiden Teile eines Ganzen zusammen ergänzten sich ..." (Seite 29)

Aber politische Kräfte im Westen taten alles, um zu verhindern, dass sich dieses "Ganze" bilden konnte.
" ... Während Russlands Führung beachtliche Anstrengungen darauf setzt, eine neue Architektur für ein vereintes Europa zu entwickeln, sahen die anderen Länder keinen Bedarf für neue Ideen, soweit sie betroffen waren. Das Modell des ‚ausgedehnten Europas‘ war einfach und praktikabel, zusammengestellt nicht durch Russland, sondern die USA...." (Seite 29)
Waren im Westen einfach Bürokraten ohne Visionen am Werk, die hier Fehler machten, oder gab es einen übergeordneten Willen, dem man in Europa folgte?

Sakwa geht dann weiter auf Vorschläge Russlands ein, wie ein Groß-Europa aussehen könnte. Alle wurden ohne ernsthafte Diskussion zurück gewiesen. Noch schlimmer, man zeigte offene Verachtung für solche Ideen.
"... Die Initiative wurde im Westen mit höflicher Geringschätzung durch die Westmächte beantwortet..." (Seite 29)
Dann weist der Wissenschaftler darauf hin, dass trotz dieser Düpierung der Ideen eines Groß Europas, speziell von Putin, weiter Vorstöße gemacht werden.
"... Eher überraschend war die Tatsache, dass Putin, trotz der Krise in der Ukraine, und den verschlechterten Beziehungen mit der EU, auf die Idee der Schaffung einer Freihandelszone vom Atlantik bis zum Pazifik, bei dem EU-russischen Gipfeltreffen in Brüssel, am 28. Januar 2014, noch einmal zurück kam. ..." (Seite 29)
D.h. wenn es eines Tages doch zu einem friedlich prosperierenden, vereinten Europa, mit vielen sich ergänzenden Machtzentren geben sollte, ist das maßgeblich darauf zurück zu führen, dass Russland eben KEINE Konfrontation gegen europäische Interessen und Politiker betrieb. Aber sicher nicht auf die Weitsicht der derzeit agierenden europäischen Politiker.

Sakwa geht dann darauf ein, wie die Ideen des "Groß-Europas" im Westen als Versuch denunziert wurden, ein neues "Groß-Russland" zu errichten.
"... Die atlantische Gemeinschaft, steht dem Versuch, einen einen Keil zwischen die beiden Flügel, Nord-Amerika und Europa zu treiben, höchst kritisch gegenüber, und das ist der Fall, seit der verschiedenen sowjetischen Pläne für eine europäische Einheit, die schon von Chruschtschow in den 1950er vorgestellt wurden. Diese Gedanken des Kalten Krieges bleiben bis heute wirksam, gemeinsam mit der fortwährenden Angst, dass alles, was an Ideen von außerhalb der NATO vorgeschlagen wird, potentiell gefährlich und spaltend ist. Das beinhaltet auch eine tiefe Ambivalenz gegenüber dem Versuch der EU, eine größere Kontrolle über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu erhalten (CFSP). Dies resultierte in einer effektiven Militarisierung der EU, in dem Sinn, dass ihre Vergrößerung, Teil eines breiteren Prozesses der Expansion der euro-atlantischen Gemeinschaft war, in dem Sicherheit, gute Regierungsführung und wirtschaftliche Reformen, Hand in Hand gingen. Mit anderen Worten ebnete die EU-Erweiterung den Weg zur NATO-Mitgliedschaft. Aus historischen Gründen sind eine Reihe von Mitgliedern der EU nicht Mitglieder der NATO: Österreich, Irland, Finnland und Schweden, aber selbst deren Neutralität wird hinterfragt. Seit 1989 alle neuen Mitglieder der EU auch Mitglieder der NATO wurden. Der Vertrag von Lissabon (der ‚Reform-Vertrag‘) vom 13. Dezember 2007, der 2009 in Kraft trat, machte dies explizit klar. Länder, die einen Antrag auf Beitritt zur EU stellen, werden nun aufgefordert, auch ihre Verteidigung- und Sicherheitspolitik mit der der NATO abzustimmen. Trotz der Hoffnungen auf einen vereinigten Kontinent nach dem Fall des Kommunismus, wurden neue Bruchlinien in Europa eingeführt. ..." (Seite 30)
So ist also die NATO hauptverantwortlich dafür, dass es unmöglich erscheint, Russland in ein gemeinsames europäisches Haus zu integrieren, was natürlich Sakwa so nicht sagt. ...

---> Frontline Ukraine - Crisis in The Borderlands, Richard Sakwa, I.B. Tauris, London, 2015 (Englisch)

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