Tymoschenko / Janukovich |
Und so stellt Sakwa folgerichtig fest:
"...Die Ukraine-Krise ist essentiell ein Kampf zwischen verschiedenen Visionen, was es bedeutet, Ukrainer zu sein, und wer dies bestimmt, und, von dort ausgehend, welcher Platz in Welt für die Ukraine der passende ist. Schon 1990 hatte Anatol Lieven hinterfragt, ob es weise wäre, zu versuchen, die Ukraine zwischen der Integration in die westlichen Institutionen, insbesondere die NATO, und seiner traditionellen Orientierung gegen Osten, wählen zu lassen. (1) Die Einführung einer solchen Wahl führte am Ende zu einem ‚Bruderkampf‘ der einen tödlichen Wettbewerb bedeutet, und der droht, das Land auseinander zu reißen, und den Weltfrieden zu gefährden. ..." (Seite 50)Sakwa zieht zum Vergleich Weißrussland heran, das nach Aussagen von ihm gewählter Historiker, eine entnationalisierte Nation wäre, mit der Folge, dass Russland und Weißrussland eine Nation darstellen würden, die in zwei Staaten geteilt wäre. Im Gegensatz dazu wäre die Ukraine ein Staat, geteilt in viele Nationen, unter denen die russische Komponente (wie die Ukrainisierer meinen), nur eine unter vielen war, während die kleinrussische Tendenz die Wichtigkeit des russischen Einflusses betont. Die fortwährende Herausforderung ist, eine adäquate verfassungsmäßige Form zu finden, um diese Unterschiede zu institutionalisieren, und eine praktische Regierungsarbeit möglich zu machen. Sakwa beschrieb, was im Vorfeld der Krise passierte:
"... Verfassungen entwerfen, und Politik, sind immer untrennbar verwoben, aber in der Ukraine nahm das extreme Formen an, als die Führung wechselte, und die verfassungsmäßige Gestaltung verworren wurde...." (Seite 51)Wir erinnern uns, dass die NATO keinerlei Rücksicht auf die Verfassung der Ukraine, und seine dort festgeschriebene Blockfreiheit, genommen hatte, als sie begann, das Land immer stärker in Richtung Westen zu drängen.
Sakwa beschreibt, dass schon früh nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Probleme offensichtlich wurden:
"...Schon mit der Unabhängigkeit im Jahr 1991 begannen die schwierigen Zeiten. Der ehemalige Vorsitzende der Ukrainischen Kommunistischen Partei (CPU), Leonid Krawtschuk, hatte, wie Gorbatschow, seine Position verändert, und war Präsident einer Republik geworden, einem Amt, in dem er bis 1994 blieb. Die Wahlen in diesem Jahr ließen die Spannungen erahnen, die für alle Präsidentschaftswahlen bis 2014 so typisch wurden. Der Süden und Osten unterstützte den eher ‚pro-russischen‘ Kandidaten von Dnipropetrowsk, Leonid Kuchma, während das Zentrum und der Westen mehr der aggressiv nationalistischen Rhetorik von Kravchuk folgten, der versuchte sein Mandat zu erneuern. Kutschma wurde 1999 für eine zweite Amtszeit gewählt, aber seine Amtszeit degenerierte kurz darauf unter Skandalen und Kontroversen. ..." (Seite 51)Dann kommt er zum Schicksalsjahr 2004 und der Wahl des Premierministers, bei der Juschtschenko und Janukowitsch in die Stichwahl vom 21. November gekommen waren.
"... Als Folge der umstrittenen Abstimmung dieses Tages, nach der Janukowytsch vorschnell als Gewinner erklärt wurde, und absurderweise bereits von Putin gratuliert worden war, rief Tymoschenko die Bevölkerung auf, auf den Maidan zu kommen, und das orangenfarbene Symbol zu verbreiten, die Farbe der Kampagne von Juschtschenko. Am 22. November wurden im ganzen Land massive Proteste organisiert, angeführt durch die Jugendgruppe ‚Pora‘ (Genug), anlässlich derer sich z.B. im Zentrum von Kiew eine halbe Million Menschen versammelten. Viele blieben in einer Zeltstadt über mehrere Wochen, trotz einer bitteren Kälte, während sie großzügig mit warmen Essen und anderen Dingen versorgt wurden. Am 3. Dezember erklärte das oberste Gericht des Landes, das Supreme Court, die Ungültigkeit der Wahl, und kündigte eine Neuwahl für den 26. Dezember an. Juschtschenko wurde mit 52% der Stimmen gegen Janukowytsch mit 44,2% gewählt. Die Proteste gegen Wahlunregelmäßigkeiten, wurden als ‚Orangene Revolution‘ bekannt. (5) Es war ein entscheidender Moment der ‚Macht des Volkes‘, aber darin verwoben waren auch mächtige Konflikte der Elite. Die Strukturen der ‚Demokratie der Oligarchen‘, wurde nicht herausgefordert, und daher bleibt die Frage von David Lane, ob es eine ‚Revolution des Volkes‘, oder ein ‚revolutionärer Coup‘ waren, bis heute angemessen.(6)..." (Seite 52)Sakwa deutet an, dass die Proteste großzügig finanziert worden waren, geht aber weder darauf ein, welche Geldquelle in Frage kommt, noch, wie in anderer Form Einfluss genommen worden war. Leider geht er auch in keiner Weise der Frage nach, warum wohl das Ergebnis der Unruhen keine wirkliche Veränderung des Systems mit sich brachte, sondern nur eine Macht-Verschiebung innerhalb der Oligarchen des Landes. Eine Beobachtung, die man im Jahr 2014 erneut machen sollte. Allerdings liest man ein paar Absätze später aus WikiLeaks-Unterlagen doch noch etwas, als der stellvertretende Außenminister für Europa und Eurasien, Daniel Fried, in die Ukraine geflogen war:
"... „um eine Nachricht der US-Regierung zu überbringen, in der diese sich der Souveränität der Ukraine verpflichtete, seiner Zukunft als freie Nation, und seinem Recht, seine eigene Wahl zu treffen, welchen Platz in der Welt das Land einnehmen will. Die Polen und baltischen Länder waren erfolgreich gewesen, angesichts russischer Gegnerschaft und Druckes, und die Ukraine wäre ebenso erfolgreich, falls seine Führer stark genug wären, die Reform fortzuführen....“ (Seite 52)Es blitzt die Unterstützung der USA für den ukrainischen Nationalismus, das Monistische System der Ukraine auf, und auch der Grund dafür, nämlich der Wunsch, Russland "einzudämmen". Fried betonte, den WikiLeaks Dokumenten zufolge, "dass die USA die Hoffnungen der Ukraine auf Beitritt zur NATO und eine euro-atlantische Verbindung unterstützen würden".
Indirekt geht Sakwa nun auf die Forderung ein, die ich vorher aufgestellt hatte, indem er schreibt:
"... Mit anderen Worten, war der Protest gegen Wahlbetrug, unlösbar verbunden, mit dem geopolitischen Wettbewerb, eine schicksalshafte Kombination, die noch verheerende Auswirkungen im Jahr 2014 haben sollte...." (Seite 53)Die so genannte "Orangene Revolution", die nur eine Verschiebung der Machtverhältnisse und Korruptionsgewinnler mit sich gebracht hatte, brach schon nach wenigen Monaten zusammen. Als es dann zu einer Koalition der Partei der Regionen (PoR) mit zwei anderen Parteien kam, wurde am 4. August 2006 Janukowytsch erneut Premierminister. Er blieb bis 2007 im Amt. Es war eine beachtliche Entwicklung, bedenkt man, dass gegen Janukowytsch doch eine "Revolution" stattgefunden hatte, die nun durch Wahlen wieder zunichte gemacht wurde.
Aber dann wurde er bei den Wahlen am 18. Dezember 2007 durch Tymoschenko abgelöst, die bis zum 4. März 2010 Premierministerin blieb. Die Gas-Beziehungen mit Moskau waren im Zentrum ihrer Aktivitäten. Das liegt nahe, nannte man sie doch die "Gas-Prinzessin", weil sie ihr Vermögen durch Aktionen im Bereich des Gashandels erzielt hatte. Sakwa beschreibt dann, wie sie ihre Rivalen ausschaltete:
"..., und sie erreichte schließlich, ihren langjährigen Rivalen Dmytro Firtasch und seine RosUkrenergo (RUE), die von Putin und Kutschma als wichtigster Handelspartner im Gasgeschäft zwischen den beiden Ländern im July 2004 auf Jalta gegründet worden war, aus dem Geschäft zu drängen, aber dies erst nach einer ausgedehnten Gas-Liefer-Sperre im Januar 2009. (9) Die Nachrichten enthüllen, wie unerträglich schwer es war, einen direkten Gasvertrag zwischen Turkmenistan und der Ukraine abzuschließen. (10) In seiner Studie über die Energieabhängigkeit der Ukraine, erklärt James Sherr, dass keine Regierung der Ukraine versucht hätte, die Muster der Abhängigkeit, Undurchsichtigkeit, Gewinnerzielung und Vorzugspreisen, zu durchbrechen, denn das hätte die engen Beziehungen zwischen dem Big Business und der Staatsmacht, zerstört. (11) Die Angelegenheit war eine zentrale Regierungsaufgabe, in der eine Gruppe von Oligarchen versuchte, eine andere auszubooten, verbunden mit Vorwürfen der Korruption und Hörigkeit gegenüber dem Kreml...." (Seite 54)Vielleicht erinnert sich der Leser an die Lobeshymnen der west-europäischen Regierungen über Tymoschenko. Ob sie wohl nicht informiert waren, welche Vergangenheit und Gegenwart sie darstellte?
Sakwa dann weiter zur Gasprinzessin und ihrem Einfluss auf die Beziehungen zu Russland:
"... Juschtschenko und Putin trafen sich am 12. Und 13. Februar ohne Tymoschenko und schlossen den Deal ab, schon bald gefolgt von Tymoschenkos ärgerlichen Besuch in Moskau. Wie ein Telegramm feststellt: ‚GOR [Die Regierung Russlands] Beamte äußerten Unzufriedenheit über die komplizierte Dynamik zwischen Juschtschenko und Tymoschenko, was eine ‚delikate Ausbalanzierung‘ nötig machte.‘ Der Bericht fährt fort, einen entscheidenden Punkt festzuhalten, der bis heute gültig ist: ‚Moskauer Analysten sehen die bilateralen Beziehungen als Gefangene der inländischen politischen Spiele.‘ (13) ..." (Seite 54)Die Probleme, die durch die innerukrainischen Machtkämpfe zwischen den Oligarchen groß genug waren, wurden noch einmal verschlimmert, durch die Einflussnahme der NATO, die allzugerne die Ukraine in ihren Reihen sehen würde. Bei Sakwa liest man dazu:
"... Eine Erklärung des russischen Außenministers vom 13. Januar 2008 ‚warnte, dass eine weitere Expansion der NATO ernsthafte politisch-militärische Umwälzungen verursachen würden, die die Interessen Russlands beeinträchtigen würden.‘ Eine potentielle Integration in die NATO, eine Angelegenheit, die auf dem Gipfeltreffen in Bukarest im April diskutierte worden war ‚würde Russland zwingen, „angemessene Maßnahmen“ zu ergreifen.‘ In seiner jährlichen Pressekonferenz vom 14. Februar, erklärte Putin mit den Worten des Telegramms: ‚er geißelte die Anfrage der Ukraine nach einem MAP [Membership Action Plan - Aktionsplan zur Einleitung der Mitgliedschaft], und erklärte, dass die Mehrheit der ukrainischen Bürger gegen einen NATO-Beitritt wären, die Führer der Ukraine aber nicht nach deren Meinung fragen würden. [.] „Was für eine Art von Demokratie ist dies? Fragte er.“‘ (14) ..." (Seite 54)Auf die Frage, wie groß der Wunsch der Bevölkerung in der Ukraine wirkliche war, der NATO beizutreten geht Sakwa leider nicht an dieser, aber an anderer Stelle ein. Sakwa schreibt aber, wie sehr sich Deutschland und Frankreich bemühen mussten, um Präsident Bush davon abzuhalten, sofort den Prozess des NATO-Beitritts von Georgien und der Ukraine in Gang zu setzen. Dann liest man etwas, das nüchtern aber eindringlich die Situation beschreibt:
"... Der russisch-georgische Krieg vom August 2008 war im Ergebnis der erste von ‚Kriegen zur Beendigung der NATO-Erweiterung‘ [in Richtung Osten]. Die Ukraine-Krise ist der zweite Krieg. Es ist unklar, ob die Menschheit den dritten überleben wird. ... Eine unaufhaltsame Macht war auf ein unbewegliches Ziel getroffen ..." (Seite 54/55)Sakwa bezeichnet die NATO-Erweiterung als "unaufhaltsame Macht" und Russland als "unbewegliches Objekt". Denn nicht Russland hatte sich verändert, sondern die NATO hatte sich aggressiv vergrößert, und rüttelte nun an den Toren Russland.
Sakwa beschreibt dann, wie die Monisten / Nationalisten der Ukraine alles Taten, um die Beziehungen zu Russland in eine Krise zu treiben.
"... Diese Blindheit war auch vorherrschend unter den Monisten in Kiew, verstärkt durch die Kampagne, angeführt von Juschtschenko, die internationale Anerkennung von Holodomor als Genozid, zu betreiben. Auf der anderen Seite wurden diejenigen, die eher bereit waren, die russischen Bedenken zu berücksichtigen, mit Korruption, und schlechter Regierungsführung, in Zusammenhang gebracht. Es fehlte der substantielle politische Ausdruck von ukrainischem Pluralismus, der empfindlicher auf die potentiell verheerenden Konsequenzen einer NATO-Erweiterung bei seinem östlichen Nachbarn, reagierte, und stattdessen sich für ein gerechteres Muster der wirtschaftlichen Entwicklung einsetzte. In diesem Fall, auch wenn ein NATO-Beitritt nicht auf der unmittelbaren Agenda stand, bedeutete die Assoziierung der Ukraine mit der EU, was in den meisten Berechnungen als harmlos angesehen wurde, doch die Integration in die Atlantische Sicherheitsgemeinschaft, und erzeugte gefährliche Sicherheitsbedenken, und stellte ebenso Moskaus eigene Pläne für eine wirtschaftliche Integration Eurasiens, in Frage. ..." (Seite 55)Hier wäre noch sinnvoll gewesen, die Bedingungen der EU-Beitritts-Verträge zu erwähnen, die nämlich ausdrücklich nicht nur wirtschaftliche Zusammenarbeit fordern, sondern auch eine Unterordnung unter die Militärdoktrin des Westens bzw. der NATO.
Bei den Wahlen von 2010 gewann wieder Janukowytsch gegen Tymoschenko. Und nun wird Sakwa deutlicher, wer für die folgenden Ereignisse die Hauptverantwortung trägt:
"... Als Janukovich an die Macht kam, war klar, dass die Beziehungen zu den USA nicht besser werden würden. Präsident Obama fokussierte sich auf den ‚Reset‘ mit Medvedev (aber nicht mit Putin, der zu dieser Zeit Premierminister war), und überließ der EU die Ukraine-Politik. Die USA kamen dann zurück ins Spiel, um die Anführung der Proteste gegen Wiktor Janukowytsch zu übernehmen, die gegen Ende 2013 an Fahrt aufnahmen. ..." (Seite 56)Bei Sakwa muss man oft zwischen den Zeilen lesen. Und Informationen an der einen Stelle in seinem Buch mit anderen Stellen in Beziehung bringen. Einerseits fordert er den Leser hierdurch heraus, andererseits bleibt er, für einen oberflächlichen Leser, gerade noch innerhalb des erlaubten Diskurses. Je tiefer wir in die Ereignisse in der Ukraine eindringen werden, desto deutlich wird die Zurückhaltung dann wieder sichtbar.
---> Frontline Ukraine - Crisis in The Borderlands, Richard Sakwa, I.B. Tauris, London, 2015 (Englisch)
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