Wir leben in einer Zeit, in der viele Autoren mit sich ringen, wie viel Kritik sie veröffentlichen dürfen, was besser ungesagt bleibt. Wie Noam Chomsky schon sagte:
In der derzeitigen Situation braucht man kein Sprachwissenschaftler zu sein, um das zu spüren. Ich versuche das aufzuzeigen, z.B. am Buch von Prof. Richard Sakwa, der die Grenzen des erlaubten Diskurses zwar berührt, aber nicht überwindet.
Die Ukraine war teil der mittleren der drei Wellen (1989, 1990 und 1991) der Umbrüche in den ehemaligen Ostblockländern. Dazu gehörten Armenien, Aserbaidschan und Georgien, sowie Weißrussland und Modawien. Sakwa beschreibt, wie die Ukraine zwischen den Machtblöcken gefangen wurde:
Dann greift Sakwa die Entwicklung der EU auf, und folgt der Frage, die durch die Vergrößerung entstanden war, was man wohl mit den Ländern an der Peripherie tun solle.
Sakwa beschreibt auch, wie Polen besonders aktiv darin war, eine konfrontative Situation West gegen Ost zu schaffen. Er zitiert Copsey und Pomorska, die dazu schrieben:
Sakwa versucht dann das Dilemma der Integration weiterer Staaten in den westlich dominierten Einflussraum zu erläutern. Staaten, die ihre Gesetze auf EU-Standards brachten, angemessene regulatorische Reformen durchführten, auch solche der "Guten Regierungsführung", sollten Zugang zu den europäischen Märkten erhalten, und eine Reihe weiterer Vorteile. Für die EU andererseits hätte es den Vorteil, besser regierte, wohlhabende Nachbarn zu gewinnen. Laut Sakwa gibt es aber drei Hauptprobleme:
So wie zunächst durch die NATO-Erweiterung ein Sicherheitsdilemma entstanden war, entstand nun ein Integrationsdilemma, wie Sakwa erläutert:
---> Frontline Ukraine - Crisis in The Borderlands, Richard Sakwa, I.B. Tauris, London, 2015 (Englisch)
NATO-Osterweiterung 1990-2015 |
"... der kluge Weg um Menschen passiv und gehorsam zu halten, ist, das Spektrum der akzeptablen Meinung strikt zu limitieren, aber innerhalb derselben eine lebhafte Diskussion zu erlauben - sogar die kritischeren und dissidenten Ansichten zu ermutigen. Das gibt den Leuten die Wahrnehmung, dass freies Denken möglich ist, während die ganze Zeit die Vorannahmen des Systems bestärkt werden, durch die Grenzen, die der Debatte vorher gesetzt worden waren..."
In der derzeitigen Situation braucht man kein Sprachwissenschaftler zu sein, um das zu spüren. Ich versuche das aufzuzeigen, z.B. am Buch von Prof. Richard Sakwa, der die Grenzen des erlaubten Diskurses zwar berührt, aber nicht überwindet.
Die Ukraine war teil der mittleren der drei Wellen (1989, 1990 und 1991) der Umbrüche in den ehemaligen Ostblockländern. Dazu gehörten Armenien, Aserbaidschan und Georgien, sowie Weißrussland und Modawien. Sakwa beschreibt, wie die Ukraine zwischen den Machtblöcken gefangen wurde:
"...Die Ukraine ist das deutlichste Beispiel dieses ‚dazwischen‘ Status. Gelegen im geografischen Herzen von Europa, und früher bekannt als Brotkorb des Kontinents, ist das Land intern zerstritten, und extern gefangen zwischen zwei entstandenen Blöcken. (25) Dies war die unvermeidbare Konsequenz des Scheiterns der Ideen eines ‚Groß-Europas‘ [Anm.:Idee verfolgt von Russland, dem gaullistischen Frankreich u.a.] und der expansionistischen Dynamik des Konzeptes eines ‚ausgedehnten Europas‘ [Anm.: Verfolgt durch auf transatlantische Führung fixierte EU] das durch die Entwicklung der eurasischen Integration gekontert wurde. ..." (Seite 37)Sakwa beschreibt, wie Russland die Ukraine umwarb, um sie zu bewegen, den pan-eurasischen Integrationsprojekten beizutreten, wie aber die Ukraine befürchtete, dadurch von EU-Hoffnungen abgehalten zu werden. Er geht dann auf die Befürchtungen ukrainischer Nationalisten ein, die glauben, dass sich ein ukrainischer Nationalstaat nur entwickeln kann, wenn er seine Abhängigkeit von Russland abschüttelt.
"... Taras Kuzio zum Beispiel, nennt diese Ländereien der ehemaligen Sowjetunion ‚post-sowjetisches Kolonialgebiet‘, in dem Selbstbestätigung unweigerlich in Konflikt kommt, mit russischen Versuchen, die zentrale Rolle in der Region zu spielen.(26) Dies setzt voraus, dass die historische Beziehung zu Russland eine koloniale wäre, eine natürliche Begleiterscheinung der Position der ‚Ukrainisierung‘. Was aber wiederum a priori eine ‚zivilisierte‘ Beziehungen mit Moskau ausschließt, und die Region zum Streit verdammt. Für die monistischen Ukrainisierer war die fundamentale Herausforderung, das Land so schnell wie möglich zu ‚desowjetisieren‘, dazu gehörte auch das sowjetische Sozialsystem, die wirtschaftlichen Verbindungen, und die bürokratischen Traditionen. ..." (Seite 38)Der Autor weist darauf hin, dass die ‚kleinrussische‘ Sicht im Gegensatz darauf besteht, dass die Beibehaltung der traditionellen wirtschaftlichen, und persönlichen Verbindungen, eine der Bedingungen bei der Bildung eines souveränen Staates in der Region wären. Und er betont noch einmal die doppelte Rolle Russlands als Täter, aber auch als Opfer, so wie die meisten anderen Länder eben auch eine wesentlich komplexere geschichtliche Vergangenheit aufweisen.
Dann greift Sakwa die Entwicklung der EU auf, und folgt der Frage, die durch die Vergrößerung entstanden war, was man wohl mit den Ländern an der Peripherie tun solle.
"...Als eine ‚Alternative zur traditionellen Geopolitik‘ wurde die „Europäische Nachbarschafts-Politik“ (ENP) 2004 aus der Taufe gehoben. (28) Zunächst Strategie des ‚ausgedehnten Europas‘ genannt, versuchte die ENP über die traditionelle Außenpolitik hinaus zu gehen, und strategischere und intensivere Beziehungen mit den Nachbarn der EU einzurichten. Wie der ehemalige Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, es am 6. Dezember 2002 ausdrückte, sollten die Nachbarn ‚alles mit der Union teilen, außer ihre Institutionen‘. Es war der Versuch neue trennende Linien, zwischen der EU und seinen Nachbarn, zu vermeiden, und die Idee war, einen ‚Ring von Freunden‘ zu schaffen, die in einem Integrationsprozess engagiert werden, der aber nicht notwendigerweise zu einem Beitritt führt. Die EU bot finanzielle Anreize im Tausch gegen gute Regierungsführung und Wirtschaftsreformen. ..." (Seite 38)Das hört sich zunächst äußerst positiv an. Dann kommt Sakwa in diesem Zusammenhang auf Russland zu sprechen und erklärt, dass das Land ursprünglich auch eingeladen worden war, Teil der ENP zu werden. Aber das Land sollte einer Vision zu folgen, die Russland als Teil eines westliche zentrierten "ausgedehnten Europa" sah. Was für jene, die Russland als Großmacht ansahen, und als eigenes Zentrum der Integration, ein Gräuel war. Dann folgte das endgültige Scheitern:
"...Stattdessen verfolgten im Jahr 2004 Moskau und Brüssel die Strategie des ‚gemeinsamen Raumes‘, jedoch verlief dieser Ansatz schon bald im Sande (trotz einiger signifikanter technischer Übereinkünfte), mit gegenseitigen Schuldzuweisungen wegen Menschenrechtsverletzungen, Energiepolitik, und Geschäftspraktiken..." (Seite 38)Russlands Befürchtungen waren nicht grundlos. Sie wurden durch die Entwicklung der "Östlichen Partnerschaft" (EaP) der EU, ab Mai 2008, noch verschärft. Zu diesem Zeitpunkt zielte die EU auf die sechs ehemaligen Sowjetstaaten an den EU-Grenzen. Sakwa beurteilt die EaP richtigerweise wie folgt:
"... Auf den ersten Blick war die EaP nur eine Variante des Barcelona-Prozesses, aber während die Partnerschaft zum Süden keine alternative hegemoniale Macht herausforderte, hatte Russland und seine CIS-Partner lang währende kulturelle, wirtschaftliche, und politische Verbindungen mit den EaP-Ländern. Die EaP, wie die UoM, war nicht dazu bestimmt, EU Mitgliedschaft für die Teilnehmerstaaten vorzubereiten, sondern sollte eine Komfortzone, eine Pufferzone, entlang der EU-Grenzen ausbauen, indem diese Länder zu einer westlichen Orientierung gebracht wurden...." (Seite 39)Tatsächlich, und das schreibt Sakwa nicht, war das Vorantreiben der EaP gen Osten, das bewusste Spalten Europas. Die Architekten dieser Abgrenzung des Westens von Russland waren der polnische Außenminister Sikorski und sein schwedischer Kollege Carl Bildt. Sakwa schreibt:
"... Statt Wege zu finden, die sich vertiefenden Gräben auf dem europäischen Kontinent zu überwinden, machten sich die beiden daran, diesen Gräben eine institutionelle Form zu geben. ..." (Seite 39)Nach der Georgienkrise im Jahr 2008 kehrte die EU endgültig zur Blockpolitik des Westens gegen den Osten zurück. D.h. unter uns oder gegen uns. Sakwa:
"... Der anfängliche Rahmen der bilateralen Beziehungen wurden beibehalten, aber vertieft, mit Gesellschafts-Vereinbarungen (Association Agreements = AAs) die von den individuellen östlichen europäischen Ländern unterzeichnet werden mussten ..." (Seite 39)Sie mussten, wollten sie denn in den Genuss des Zugangs zum west-europäischen Marktes kommen ... Soviel zur Selbstbestimmung der Völker.
Sakwa beschreibt auch, wie Polen besonders aktiv darin war, eine konfrontative Situation West gegen Ost zu schaffen. Er zitiert Copsey und Pomorska, die dazu schrieben:
Der Georgien-Krieg, den Saakaschwili losgetreten hatte, wurde zum Vorwand genommen, die Konfrontation noch zu vertiefen. Der Autor hält dann fest:"... was einige Beamte in Brüssel überraschte, war, dass die Polen wiederholt darauf bestanden, dass die Initiative nicht anti-russisch wäre, und dass sie für die betroffenen Länder, nichts zu tun hätte, mit der Aussicht auf die Aussicht auf eine Mitgliedschaft. Jedoch glaubten einige der Partner Polens in der Union, dass die polnische Regierung zu viel protestierte, nachdem sich das Land viele Jahre als stählern, und als skeptischer Kalter Krieger gegenüber Russland präsentiert hatte, und immer wieder die geopolitischen Imperative betonte, dass man Russlands Expansion verhindern müsse, wodurch die Glaubwürdigkeit für die Behauptung fehlte, dass die EaP nicht anti-russisch war. (30) ..." (Seite 39)
"... Russlands Antwort auf den Angriff Georgiens gegen die Hauptstadt von Süd-Ossetien, Zchinwali, umfasste eine temporäre Okkupation des Teils von Georgien, gefolgt kurz darauf von der Anerkennung der Unabhängigkeit von Ossetien und Abchasien. Dies mag unangemessen und schlecht beraten gewesen sein, aber es war im größeren Rahmen die Antwort auf die Bedrohung durch die NATO-Erweiterung...." (Seite 40)Nun bleibt Sakwa wieder innerhalb des gesetzten Rahmens, und beschreibt die Folgen als "Fehlinterpretationen":
"... Fehlinterpretationen dieses Konfliktes führten direkt zur Ukraine-Krise. Sikorski und Bildt arbeiteten beharrliche daran, sicher zu stellen, dass die falschen Lektionen aus dem russisch-georgischen Krieg gezogen wurden. Sikorski, mit den Worten eines scharfsinnigen Kommentators, ‚ist wirklich ein weiterer ost-europäischer Verrückter. […] ..." (Seite 40)Sollen wir wirklich glauben, dass europäische und atlantische Spitzenpolitiker "Verrückte" sind? Aber dann wird Sakwa deutlicher:
"... Das Ziel war, die Trennung der Ukraine von Moskau zu organisieren, um das Land in den westlichen Block zu führen. 2010 begannen Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit dem Land, in dem Reformprioritäten spezifiziert wurden, während die DCFTA die Zölle und Handelsquoten zwischen der EU und seinem Partner eliminieren sollte. Das Assoziierungsabkommen wurde am 30. März in Kraft gesetzt und die DCFTA Regeln am 19. Juli 2012, aber der Plan, die Verträge anlässlich des dritten Gipfeltreffens der EaP in Vilnius, am 28. und 29. November 2013, zu unterzeichnen, provozierte die größte europäische Krise seit Generationen...." (Seite 40)Und nun folgt eine wichtige Analyse, die scharf an den Grenzen des erlaubten Diskurses rüttelt:
"... In Osteuropa hatte die Dynamik der Auseinandersetzung über Territorien bereits begonnen, wie 2008 demonstriert hatte. Auch wenn die EaP dargestellt wurde, als ob es nur ein weiterer Versuch wäre, eine sub-regionalen Dimension einer breiteren Politik zu sein, die die Nachbarn der EU betrafen, war es in der Praxis ein Weg, die Länder zu zwingen, eine Wahl zu treffen. Die Parteigänger dieser Politik bestanden darauf, dass es das souveräne Recht dieser Staaten wäre, einer Allianz beizutreten, wie es ihnen beliebte. Das Konzept der ‚Wahl‘ wurde dann zutiefst ideologisch und benutzt als Waffe gegen jene, die vorschlugen, dass Länder Geschichte und territoriale Beziehungen hätten, und dass solche Entscheidungen die Effekte in Betracht ziehen müssen, die die Wahl des Landes auf andere haben könnte...." (Seite 40)Aber schon im nächsten Absatz tritt er wieder einen Schritt zurück, indem er nicht Absicht, sondern das Fehlen eines gesunden Menschenverstandes als Grund unterstellt. Und er beschreibt dann als Gründe für das Versagen der Politiker, dass die EU zwar den Pfad des geopolitischen Wettbewerbs betreten hätte, aber dazu intellektuell nicht in der Lage gewesen wäre.
"... Nicht nur, dass das Assoziierungsabkommen inkompatibel mit der Freihandelszonen-Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland war, sondern da gab es auch noch die Lissabon-Anforderungen, dass die Ukraine seine Verteidigungs- und Sicherheits-Politik mit der EU abstimmen müsse. Das war eine Wende um 180° für die Ukraine, und statt die Logik des Konfliktes zu überwinden, wurde die EU ein Instrument seiner Reproduktion in neuen Formen. ..." (Seite 41)Wir halten fest: Die Ukraine soll gezwungen werden, ihre bisherige Sicherheitspolitik um 180° zu drehen, und man erwartet keinen Widerstand aus Russland? Vorsichtig beschreibt Sakwa was diese Politik bedeutete:
"... Dies ist nicht die EU, die eine ganze Generation von Idealisten, erschüttert durch die Erinnerungen an die europäischen Kriege, versuchte zu errichten. Und dies entfremdete auch Russland, und zerrüttete das Sicherheitssystem Europas in der Phase nach dem Kalten Krieg...." (Seite 41)Und dann stellt er fest, dass schon bald die ganze europäische Politik durch die Washingtons überschattet und ersetzt wurde.
"... Lady Catherine Asthon, die erste Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik an der Spitze der EEAS, hat einige bemerkenswerte Erfolge erzielt, die ihr zuzurechnen sind, besonders durch die Hilfe bei der Regulierung der serbisch-kroatischen Beziehungen, und sie war unermüdlich darin, Europas Diplomatie zu repräsentieren, aber als die Ukraine-Krise sich entwickelte, wurde klar, dass sie unfähig war, eine unabhängige Politik zu formulieren, die die militante Rhetorik, die von Moskau, Washington und Kiew ausstrahlten, dämpfen konnte. Die EU war unbedeutend geworden, in einem Konflikt, der durch ihre Aktionen provoziert worden war, und einem Konflikt, der in seiner Nachbarschaft stattfindet. ..." (Seite 41)Russlands verschiedene Vorschläge für trilaterale Regulierungen der Nachbarschaftsangelegenheiten wurden auf Druck Washingtons permanent zurück gewiesen. Beispielsweise hatte Putin, als auf dem Prager Gipfeltreffen im Mai 2009 die EaP geboren wurde, vorgeschlagen, eine Struktur aus drei Parteien zu schaffen, um das ukrainische Gas-Pipline-System zu modernisieren. Aber das wurde brüsk zurück gewiesen, so wie alle Initiativen Russlands, die Länder der EU enger mit dem Rest Europas zu verbinden. Zu groß war die Angst, die Zentrierung auf Brüssel und Washington könnte dadurch aufgeweicht werden, was Sakwa allerdings verschweigt. Sakwa weist dann aber darauf hin, wie angebliche Vorschläge der EU zu bewerten waren:
"... Als Ergebnis verschlechterten sich die Beziehungen mit José Manuel Barroso, dem Vorsitzenden der Europäischen Kommission, und ihm wurde in Moskau kein Vertrauen mehr entgegen gebracht. Seine verspäteten Versuche, eine detaillierte Diskussion der Fragen über die Beitrittsverhandlungen, auf die Agenda der sechs-monatigen Gipfeltreffen der EU mit Russland zu setzen, wurden als Ersatz für eine wirkliche Diskussion der problematischen Fragen angesehen. Die Spannungen wurden noch verschärft durch die selektive Anwendung der Konditionen, besonders im Fall von Weißrussland, als es vor den Wahlen von 2010 so aussah, als ob sich die Beziehungen zu Russland verschlechtert hätten. Und tatsächlich war die EU bereit, das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zu unterzeichnen, obwohl die von der EU selbst aufgestellte Bedingung der Freilassung von Julija Tymoschenko aus dem Gefängnis, nicht erfüllt worden war...." (Seite 42)Sakwa gibt dann auch einen Ausblick auf einen der nächsten Konfliktherde: Weißrussland:
"... Jede der Republiken aus dem Grenzland der ehemaligen Sowjetrepublik fand sich dem Problem gegenüber, auf jeweils eigene Art, gefangen zu sein, zwischen zwei gegensätzlichen Gravitations-Feldern. Weißrussland, geführt durch Präsident Alexander Lukaschenko seit 1994, war formal der engste Verbündete Russlands, und engagierte sich in einem langwierigen Prozess in der Schaffung eines ‚Unionsstaates‘. Basierend auf der Rhetorik der ‚Slawischen Einheit‘ und der gemeinsamen Sowjet-Vergangenheit, zog sich der Prozess über die Jahre hin. Russland unterstützte das weißrussische Wirtschaftsmodell, aber die Beziehungen waren alles andere als einfach. Es gab verschiedene Gas-Konflikte, Milch-Kriege und gegenseitige Medienangriffe. Aber wie gespalten die weißrussische Identität auch sein mag, weniger als 30% wünschen die Wiedervereinigung mit Russland. (36) Als Folge der Ukraine-Krise und der Annexion der Krim, verstärkten sich Bedenken hinsichtlich ‚imperialer‘ Ambitionen Russlands. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung von Weißrussland ist gegen, in der einen oder anderen Weise, geartete Vereinigung mit Russland, eine Zahl, die vergleichbar ist mit der, die einen EU-Beitritt befürworten. Weißrussland schaut in beide Richtungen, wie man es für ein Grenzland erwartet. (37) ...." (Seite 42)Ähnlich beschreibt der Autor dann die Situation in Armenien.
Sakwa versucht dann das Dilemma der Integration weiterer Staaten in den westlich dominierten Einflussraum zu erläutern. Staaten, die ihre Gesetze auf EU-Standards brachten, angemessene regulatorische Reformen durchführten, auch solche der "Guten Regierungsführung", sollten Zugang zu den europäischen Märkten erhalten, und eine Reihe weiterer Vorteile. Für die EU andererseits hätte es den Vorteil, besser regierte, wohlhabende Nachbarn zu gewinnen. Laut Sakwa gibt es aber drei Hauptprobleme:
"... erstens würde die Periode der Transition profunde Belastungen für das sich reformierende Land mit sich bringen, und, in Abwesenheit von massiver Unterstützung durch die EU, würde das die Stabilität des Landes gefährden. ... Zweitens war die Aussicht auf einen Beitritt zur EU für die zentral-europäischen Länder greifbar und realistisch, aber nun leidet die EU unter einer fühlbaren Expansionsermüdung. Mit der Aufnahme Kroatiens angewachsen auf 28 Mitgliedsländer, und unter den Nachwirkungen der größten Wirtschaftskrise in seiner Geschichte, immer noch leidend, gab es keinen Appetit für weiteres territoriales Wachstum. Der Beitrittsprozess der Türkei sah aus, als ob er sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken könnte. Die Absorption eines Landes von der Größe und Komplexität der Ukraine ist einfach nicht auf der Agenda dieser Generation. Und schließlich sind die Anreize, strukturelle Reformen durchzusetzen, viel geringer als in Ländern wie Polen, einem Land, in dem die EU-Mitgliedschaft weitgehend unumstritten war.
Drittens, und dies ist das wichtigste Problem, trat der Vorstoß der EU nach Osteuropa gegen ein bereits existierendes Netzwerk von wirtschaftlichen und anderen Partnerschaften an, und verursachte durch sein Eindringen Kontroversen. Die EU-Politik fand keinen Weg, um die Interessen der anderen Akteure zu berücksichtigen, stattdessen kann man den Ansatz treffenderweise mit ‚eher naiv eurozentrisch‘ beschreiben. (38) Das Argument, dass die EU nicht die russischen Regeln für eine Beziehung akzeptieren solle, sondern eigene Regeln aufstellen müsse, war ein Rezept für Konfrontation, wenngleich gedämpft durch die Ansicht, dass ‚die EU existierende Instrumente, in einer weniger ideologischen, sondern mehr pragmatischen Weise, nutzen und anwenden sollte.‘ (39) ..." (Seite 43)Sergei Glazjew, der inzwischen auf der Sanktionsliste der Personen steht, gegen den die USA und die EU Beschränkungen verhängt haben, machte vergeblich Verbesserungsvorschläge. Er führt weiter aus, dass ‚ein konstruktiver Weg aus den anwachsenden Widersprüchen, zwischen den alternativen Integrationsprozessen in Eurasien, wäre, sie zu entpolitisieren, im Interesse einer gemeinsamen wirtschaftlichen Kooperation.‘ Dazu kam es leider nie. Leider stoppt hier Sakwa und erläutert nicht eingehender, wie wirtschaftliche Kooperation nicht entpolitisiert, sondern als geopolitische Waffe missbraucht wird.
So wie zunächst durch die NATO-Erweiterung ein Sicherheitsdilemma entstanden war, entstand nun ein Integrationsdilemma, wie Sakwa erläutert:
"... Wie Charap und Troitskiy feststellen, können rein defensive Vorhaben eines Staates, von einem anderen als aggressive Akte angesehen werden. Sie führen aus, dass ein Integrationsdilemma auftritt, ‚wenn ein Staat die Integration seines Nachbarn in eine militärische Allianz, oder ökonomische Gruppierung, zu der er selbst keinen Zutritt hat, als Bedrohung der eigenen Sicherheit, oder des eigenen Wohlstandes, ansieht.‘ (41) ..."(Seite 43)Der exklusive Anspruch der EU war der Schlüssel für das Versagen und das Entstehen einer immer größeren Konfrontation. Sakwa:
"... Auch wenn die Führer der EEU darauf beharren, dass es keine fundamentale Inkompatibilität zwischen ihrem Integrations-Projekt und dem Westeuropas gibt, so besteht die EU doch darauf, dass die Länder sich entscheiden müssen. Es ist diese Forderung, die nach Kaltem Krieg riecht, was typisch ist für die Art, in der die EU von einer Institution, die dazu bestimmt war die Logik von Konflikten zu transzendieren, degenerierte in eine, die die Konflikte in neuer Form verewigt. Die Staaten ‚in der Mitte‘ stehen nun vor einer schweren Wahl: Die EU oder die EEU? Die ‚gemeinsame Nachbarschaft‘ wurde zu einer Kampfzone..." (Seite 44)Und wieder hält Sakwa hier an. Er vermeidet zu analysieren, wie es dazu kam, und was die treibenden Kräfte waren, eine neue Teilung Europas zu forcieren. Dazu mehr im nächsten Artikel.
---> Frontline Ukraine - Crisis in The Borderlands, Richard Sakwa, I.B. Tauris, London, 2015 (Englisch)
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