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Sonntag, 22. November 2015

UKRAINE, KRIM, die EU, NATO und Russland-Teil 09

Sakwa hatte schon auf den ersten Seiten seines Buches das Märchen zerstört, das unsere Medien pflegen, dass der gestürzte Präsident der Ukraine, Janukowytsch, eine Marionette Moskaus gewesen wäre. Auch wenn Russland ihm wohl das Schicksal von Gaddafi ersparte, indem ihn ein russischer Hubschrauber ausflog, war das Verhältnis zwischen Moskau und Kiew auch unter Janukowytsch alles andere als einfach.



RUSSISCH-UKRAINISCHE BEZIEHUNGEN

Ab Seite 67 beschreibt Sakwa arbeitet Sakwa dann in seinem Buch die komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland, nach der Selbstauflösung der Sowjetunion, auf. Schon früher hatte er darauf hingewiesen, dass erst die Erklärung der Souveränität durch Russland, am 12. Juni 1990, der Ukraine den Weg in die eigene Selbständigkeit geebnet hatte. Jetzt beschreibt er, wie Boris Jelzin die Souveränität der anderen Republiken der Union sehr effektiv unterstützte. Interessanterweise war aber schon zu diesem Zeitpunkt abzusehen, dass es zu einer Krise kommen würde, sollte die Ukraine Gebiete, die Russland glaubt, als eigenes Territorium beanspruchen zu können, plötzlich unter den maßgeblichen Einfluss der NATO stellen:
"... Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine vom 24. August 1991, warnte Jelzins Pressesprecher, Pavel Voshchanov, dass Unabhängigkeit eine Revision der Grenzen auslösen könnte: ‚wenn irgend eine Republik aus der Unionsbeziehung mit Russland ausbricht, dann nimmt sich Russland das Recht, die Frage nach den territorialen Ansprüchen zu stellen‘. (38). Der Sturm, der diesem Kommentar folgte, intensivierte sich, als er klarstellte, dass er nur Regionen meinte, die früher einmal Teil von Russland gewesen waren, unter ihnen listete er auch die Donbasss-Region. Gorbatschow fügte seinen Kommentar hinzu, dass es ‚keine territoriale Ansprüche innerhalb der Union geben könne, aber ihr Aufleben kann nicht ausgeschlossen werden, wenn Republiken die Union verlassen‘. (39) ..." (Seite 67)
Leider geht Sakwa nicht darauf ein, warum die westlichen Politiker diese geschichtliche Tatsache ungeachtet ließen, als sie mit Macht versuchten, die Neutralität der Ukraine zu brechen, und sie aus dem Einflussbereich Russlands heraus zu lösen.

Eine ganz besondere Rolle spielte schon immer die Halbinsel Krim. Schon von Beginn an war der Transfer der Halbinsel von Russland, an die Ukraine, im Jahr 1954, durch Nikita Chruschtschow, von den ‚Restauratoren‘ in Russland, bekämpft worden, und genau das war das Thema, das die ansonsten zersplitterte patriotische Bewegung einigte. Darüber hinaus war die Marinebasis Sewastopol 1954 als separater Teil angesehen worden, und als ‚ein Objekt von Bedeutung für die gesamte Union‘, wie man damals sagte. Sakwa beschreibt dann, welche Rolle schon 1991 die Krim für Russland gespielt hatte, und warum Jelzin von russischen Nationalisten als Verräter angesehen wird:
"... Während des Herbstes 1991 war Jelzin unter Druck gesetzt worden, auf die Rückkehr der Krim zu drängen, und die Angelegenheit war beim Belavezha Treffen, der die UDSSR auflöste, latent vorhanden. Was Jelzin anging, so glaubte er, dass die CIS bedeuten würde, dass die sowjetische Gemeinschaft weiter bestehen bleibt, insbesondere was Sicherheits- und Verteidigungsfragen anging, und dass es darum wenig Unterschied machen würde, zu welcher Republik die Halbinsel gehört. Bei dem Treffen wurden Pläne für ein gemeinsames Militär schnell beiseite geschoben, und die Republiken setzten ihren Weg der Differenzierung und des Auseinanderstrebens, weiter fort. Russland wurde von der UN 1991 formal als ‚Fortsetzer‘ (nicht Nachfolger) der UdSSR anerkannt. Dies bedeutete technisch gesehen, dass alles was der Sowjetunion gehört hatte, nun unter die russische Jurisdiktion fiel. So fiel Sewastopol, als ein ‚Objekt von Bedeutung für die gesamte Union‘ automatisch unter russische Gesetzgebungsgewalt. Russische Nationalisten haben Jelzin nie vergeben, dass er dieses Recht seinerzeit nicht durchsetzte..." (Seite 68)
Von westlichen Medien wird immer wieder kolportiert, dass im Rahmen des Verzichts auf Atomwaffen, Russland der Ukraine Sicherheitsgarantien abgegeben hätte. Sakwa schreibt kurz dazu:
"... Dies wurde im Budapester Memorandum am 5. Dezember 1994 festgelegt, und von den Führern Russlands, den USA, Großbritanniens und der Ukraine unterzeichnet. Die Vereinbarung hatte nicht den Status eines international bindenden Vertrages, signalisierte aber, dass die Unterzeichnerstaaten keine territoriale Ansprüche stellen, und die Unabhängigkeit der Ukraine unterstützen würden. ..." (Seite 68)
Hier geht es also darum, dass KEIN verbindlicher Vertrag geschlossen wurde, ebenso wie bei dem Versprechen des Westens, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Aber in dem einen Fall schreiben die westlichen Medien "haltet den Dieb", im anderen Fall ignorieren Sie die Vereinbarung einfach, oder behaupten sogar, es gäbe sie gar nicht.

Sakwa weist auch darauf hin, dass die Budapester Vereinbarung nicht die Frage des Status von Sewastopol gelöst hatte, die zur Basis für Russlands Flotte geworden war. Es hatte Versuche von Kravchuk gegeben, die ganze Sowjet-Basis zu ‚nationalisieren‘, aber Admiral Vladimir Kasatonov hatte sich geweigert, und stattdessen die russische Fahne aufgezogen, was ihn zu einem Held der russischen Nationalisten gemacht hatte. Und so entstand die abnormale Situation, dass Russland über eine große Zahl von Schiffen verfügte, aber keinen eigenen Hafen. Obwohl Russland ein riesiges Land war, hatte sie historisch gesehen, schon immer Mangel an Warmwasserhäfen.

Sakwa offenbart dann, wie heuchlerisch die westlichen Stellungnahmen zu dem Thema waren, und weist dann darauf hin, dass die USA Kuba im Jahr 1903 Guantanamo Bay abgenommen hatten, und dieses Gebiet nie zurück übereigneten, auch nicht nach Erlangung der kubanischen Souveränität und Forderungen, die seit 1959 erhoben werden. Guantanamo ist und bleibt besetztes Gebiet. Ebenso behielt Großbritannien Akrotiri und Dhekelia für militärische Zwecke, nachdem Zypern uanbhängig geworden war. Genau diese beiden Länder aber verweigerten Russland nun, das gleiche Recht in Anspruch zu nehmen. Und, durch den Westen unterstützt, blieb Sewastopol für die Ukraine ein wichtiger Verhandlungstrumpf gegen Russland. Nach Jahren des Streits wurde schließlich im Mai 1997 eine Vereinbarung zwischen Russland und der Ukraine getroffen. Aber auch diese löste das Problem nicht.
"...Der Vertrag kodifiziert die Prinzipien der russisch-ukrainischen Beziehungen, basierend auf der gegenseiten Achtung der Souveränität, territorialen Integrität, der Unverletzlichkeit der Grenzen, und des Gewaltverzichts. Der Ratifizierungsprozess provozierte jedoch in Russland enorme Kontroversen und Streit. Die politische Gesellschaft war tief gespalten, zwischen Anhängern des realistischen Dirigismus, Liberalen und den meisten Neo-Imperialisten, die für eine Ratifizierung eintraten, während die ethnischen Nationalisten und ein Teil der neo-imperialistischen Gruppe, darunter Wladimir Schirinowskis Liberal-Demokratische Partei Russlands (LDPR), der Bürgermeister Moskaus, Juri Luschkow, der Führer der der Russian All-People’s Union, Sergej Baburin, und Alexander Lebed, ganz energisch dagegen argumentierten. Die hauptsächliche Streitfrage für sie war, dass der Vertrag bestätigen würde, dass die Krim der Ukraine gehörte..." (Seite 69)
Aber auch in der Ukraine gab es Streit. Russland wurde so weit misstraut, schreibt Sakwa, dass es schwierig würde, eine nachhaltige diplomatische Beziehung aufzubauen, die auf Vertrauen basiert. Stattdessen machen die Monisten Russland für alle ukrainischen Probleme verantwortlich, was Sakwa Externalismus nennt, wodurch der Lösung von Binnenproblemen, durch Verhandlungen, keine angemessene Aufmerksamkeit entgegen gebracht würde.
"...Tymoschenko z.B. war eine Apostel des Containments von Russland, aber das hielt sie nicht davon ab, im Jahr 2009 einen umstrittenen Gasvertrag mit Russland abzuschließen. 2007 hatte Tymoschenko argumentiert, dass ‚der Westen versuchen muss, ein Gegengewicht zu Russlands Expansionismus zu bilden, und nicht alle Hoffnungen auf Russlands Inlandsreformen zu setzen.‘(41) ..." (Seite 70)
Er stellt dann fest, dass die Behauptung, dass Russland eine expansionistische Macht wäre, jeder Substanz entbehre, und zerstört damit nebenbei schon wieder ein Narrativ der NATO, ohne näher darauf einzugehen, worauf die Behauptung der NATO, Russland wäre expansiv, basiert.

Sakwa führt dann ein WikiLeaks Telegramm des US-Botschafters an das Außenministerium vom April 2009 an, um aufzuzeigen, wie die globalen Spannungen, zu einem pathologischen Zustand des ukrainischen Staates beitrugen. Wobei er mit dem Ausdruck "globale Spannungen" auch wieder versucht, zu vermeiden, Ross und Reiter zu nennen. Das Telegramm besagte:
"... „Die Beziehung der Ukraine mit Russland blieb gespannt und kompliziert. Seit dem georgisch russischen Konflikt im August 2008, ist die Vorstellung einer potentiellen Sicherheitsbedrohung durch Russland, noch stärker in den Fokus geraten, besonders als Folge der kontinuierlichen Opposition einiger NATO Mitglieder, gegen einen MAP für die Ukraine. Die veränderte US-Politik gegenüber Moskau, hat zu der Spekulation geführt, dass die USA ihre Unterstützung für die Ukraine aufgeweicht hätten, als Preis für eine Verbesserung der US-russischen Beziehungen.“ (42)...
... Wie lange das anhalten wird, angesichts einer anhaltend fehlenden Unterstützung der Öffentlichkeit (nur ca. 25%) für eine NATO-Mitgliedschaft, ist unklar....(Seite 70)"
DIE UKRAINER WOLLEN IN DIE NATO ?

Also wird hier ganz nebenbei das Narrativ zerstört, dass die Mehrheit der Ukrainer unbedingt einen NATO-Beitritt wollten. Süffisant stellt er dann fest:
"... Der NATO beizutreten wurde offensichtlich als ‚demokratisch‘ angesehen, auch wenn die Demonstrationen dagegen waren...." (Seite 71)
Sakwa zieht dann weiter WikiLeaks Dokumente heran, um zu zeigen, wie die westliche Politik verhinderte, dass die Ukraine zu einer normalen Beziehung mit Russland kam.
"... Die Frage neuer Sicherheitsgarantien für die Ukraine wurden aufgegriffen, als Tymoschenko im März 2009 auf der Münchner Sicherheitskonferenz für eine größere Beteiligung der Ukraine an der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, aufrief (43)
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Die Telegramme enthüllen ein schockierendes Ignorieren von Russlands legitimen Sicherheitsbedenken, in Bezug auf seine historischen und wirtschaftlichen Beziehungen zur Ukraine. Stattdessen wurde die Logik einer euro-atlantischen Sicherheits-Expansion, ein hermetisch abgeschlossenes Projekt: Nichts und niemand konnte an der Begründung rütteln, in die sie eingebettet war. Es war diese Logik, die Uneinigkeit und Streit über die Ukraine brachte, und dann Europa den Krieg in 2014...."
(Seite 71)
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Sakwa beschreibt dann die Demarkation der über 2.200 km langen Grenze als weiteren Streitpunkt. Er erwähnt schließlich, dass Medwedew und Janukowytsch am 21. April 2010 eine Verlängerung der Miete für die Marinebasis Sewastopol für weitere 25 Jahre vereinbart hatten. Als Gegenleistung brachte die ‚Charkiw Vereinbarung‘, einen Nachlass von 100$ pro 1000 Kubikmeter (tcm) Gas. Der Kontraktpreis im Deal von Januar 2009, der die russischen Gassperren beendete, betrug 486,50$ pro tcm, und der Nachlass ersparte dem ukrainischen Fiskus Milliarden Dollar. Allerdings stellt Sakwa fest, dass der Nachlass nicht dabei half, der Ukraine bei der Beseitigung ihrer ernsten Energieprobleme zu helfen.
"... Die inländischen Gaspreise für die Bevölkerung und die kommunalen Heizbetriebe lagen weit unter dem Importpreis, was durch enorme Subventionen des Staates an die Naftogaz ausgeglichen wurde. Und trotzdem war ein großer Teil der inländischen Konsumenten nicht mehr in der Lage, ihre Rechnungen zu zahlen.  ..." (Seite 71)
Der Westen musste wissen, dass ohne vergünstigtes russisches Gas, die Menschen in der Ukraine frieren mussten. Die Politiker der EU und der USA mussten wissen, dass es Jahre dauern würde, die Energieprobleme zu lösen. Doch sie taten nichts, um die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine im Interesse der Menschen und preiswerter Gasbezüge, zu verbessern, und gleichzeitig dem ukrainischen Staat zu helfen, die Energieproblematik ernsthaft in Angriff zu nehmen.

---> Frontline Ukraine - Crisis in The Borderlands, Richard Sakwa, I.B. Tauris, London, 2015 (Englisch)

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