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Donnerstag, 22. März 2012

Das Problem mit dem Engagement

Die Piratenpartei hat ein Luxusproblem, das die anderen Parteien kaum verstehen werden. Die Mitglieder sind nicht zu müde und träge, um sich zu engagieren, sondern sie sind dermaßen über- engagiert, dass manchmal chaotische Situationen entstehen. Am meisten dürften darunter die Gründer leiden, sehen sie doch, wie ihr sorgsam gepflegtes Nerd-Image immer stärker verwässert wird, und sich immer mehr Neupiraten zur Wort melden und einfach nicht durch die Autorität der Altvorderen beeindrucken lassen wollen.


Die Piratenpartei ist kein Sammelbecken von Protestwählern und Karrieristen. Sicher solche gibt es auch, wie in den meisten kleineren Parteien. Aber eigentlich ist die Piratenpartei das Sammelbecken der Aktivisten, der Bürger, die endlich einmal was bewegen wollen. Möglicherweise war es in der Gründerzeit der Grünen ähnlich, wobei allerdings damals das Thema eingeschränkt war, und demzufolge die Auseinandersetzungen weniger intensiv und breit. War die Grünenpartei über lange Jahre eine 2-Themen-Partei gewesen, entwickelt sich die Piratenpartei wesentlich schneller zu einer, alle Themen abdeckenden Partei. Zu einer Partei, die zu den meisten gesellschaftlichen Fragen eine Meinung öffentlich machen will ... Aber nicht kann.


KONSENS VS HIERARCHIE

Nicht kann, weil die Konsensbildungsprozesse in einer basisdemokratisch organisierten Partei naturgemäß wesentlich länger dauern, als in einer hierarchisch geführten Altpartei. Man erkennt hier im Mikrokosmos der Parteien die Probleme des politischen Makrokosmos wieder: Je autoritärer und hierarchischer ein Land strukturiert ist, desto schneller und schlagkräftiger können Entscheidungen gefällt werden. Auf der anderen Seite aber haben Länder, die einen langsamen und schmerzhaften Konsensprozess durchmachen, für die Entscheidungen wesentlich mehr Rückhalt bei den Bürgern, tragen diese die Konsequenzen wesentlich bereitwilliger mit.

Die deutsche Politik ist derzeit auf dem Weg weg vom Konsensstaat, hin zum autoritären Verwaltungsstaat. Begründet wird das mit der Globalisierung, den immer schneller notwendig werdenden Entscheidungen, den feindlich gestimmten "Märkten", und mit dem wirtschaftlichen Erfolg autoritärer Systeme wie z.B. China.

Die Zeiten, da nach dem Krieg über paritätische Mitbestimmung diskutiert wurde, und wie man sie aus der Montanindustrie in die restliche Wirtschaft bringen könnte, sind vorbei. Die von den Grünen zelebrierte Demonstrationskultur wird inzwischen längst missbraucht, um lautstark Partikularinteressen gegen das Interesse der Allgemeinheit durchzusetzen. Das hat längst nichts mehr mit "Mitbestimmung" oder Mitgestaltung zu tun.

Da sind jetzt zwei Pole: Die des Bürgers, der unter dem Motto "Ich bin doch nicht blöd" versucht, sein Schäfchen, auch auf Kosten anderer, ins Trockene zu bringen. Und der andere Pol ist der des Politikers, der einen Euro-Rettungsschirm nach Prinzipien entwickelt, die vollkommen an demokratischen Grundsätzen vorbei gehen. Wenn Finanzminister Schäuble in einer Rede vor Bankern zum Ausdruck bringt, dass "wir eine Elite sind, die muss das Problem jetzt lösen", dann wird klar, dass die Politiker die Bürger anscheinend nicht mehr Souverän anerkennen. Wobei noch nicht klar ist, ob zukünftig "die Märkte", nach denen sich die Staaten richten sollen, oder die Banken als Souverän gelten werden.

DIE GEGENBEWEGUNG

Während Schäuble die Lösung der Problemen also jenen überlassen will, die diese Probleme selbst erzeugt haben, wollen sich immer weniger Menschen damit abfinden. Nur trauen sich nur wenige, öffentlich auszusprechen was sie denken, wurde dies doch über Jahrzehnte als "kommunistisch" oder "sozialistisch", als "Spinnerei" oder "weltfremd" vom Tisch gewischt.

Aber nachdem deutsche Kreissparkassen und Raiffeisenbanken maßgeblich daran beteiligt waren, dass Deutschland so gut durch die Bankenkrise gekommen ist, fragen sich immer mehr Menschen, ob "die da oben" für die normalen Menschen oder eher für eine bestimmte Schicht denken und handeln. Und diese Menschen wollen endlich mitreden. Sie wollen alternative Modelle diskutiert sehen und nicht mehr nur als Spinnerei abgetan wissen. Denn sie haben inzwischen begriffen, dass Systeme, die selbst nicht mehr von promovierten Volkswirten, wie dem Chef der Organisation Thilo Bode (http://www.youtube.com/watch?v=jyJEsq3wR4E) durchschaut werden, nicht zum Nutzen der Allgemeinheit sind.

Wer nun die Listen der Arbeitsgemeinschaften der Piratenpartei abonniert wird schnell erschlagen von einer ungeheuren Flut von Ideen, Diskussionen, heftigen Auseinandersetzungen. Wenn nur ein Bruchteil der Ideen in Bahnen gelenkt und zu alternativen Konzepten Eingang in das Wahlprogramm bzw. das Grundsatzprogramm der Piratenpartei findet, wird dies eine kleine Revolution auslösen. Denn plötzlich werden die Menschen sehen, dass ja auch andere in diesem Universum sich die Frage stellen, wie es kommt, dass eine Nationalbank Kredite für 1% an Banken ausgibt, damit diese die Kredite mit wesentlich höheren Zinsen {zurück} an den Staat geben können.

Die nächste Revolution wird nicht mit Gewehren geführt werden, sondern mit Finanz- und anderen Gesetzen. Noch ist den etablierten Politikern und den Lobbyisten kaum klar, welche Welle auf sie zukommt. Aber bald wird es wohl soweit sein. Wenn die ersten Parlamentarier in den Landtag von NRW einziehen.

Natürlich werden die Lobbyvertreter zunächst auf diejenigen zugehen, die erklärt haben, keiner Fraktionsdisziplin zu folgen. Denn sie erscheinen als leichtestes Opfer von Beeinflussung und Lobbyarbeit. Schließlich brauche sie keinem Fraktionszwang zu folgen und haben fünf Jahre ein sicheres Einkommen mit anschließender Teil-Altersversorgung. Aber vermutlich und hoffentlich werden sich die Lobbyisten wundern.


DIE GEGEN-GEGEN-BEWEGUNG

Aber natürlich gibt es auch innerhalb der Piratenpartei Bestrebungen, das fruchtbare Chaos zu bändigen, Netzwerke zu bilden, Entscheidungen durchzusetzen, halt konventionelle Parteiarbeit zu betreiben. Das hässlichste und am meisten missbrauchte Wort in diesem Zusammenhang ist "Troll". Trolle waren ursprünglich in Foren jene Benutzer, die ständig unter anderem Namen auftauchten, Unsinn verbreiteten, nur darauf aus waren zu provozieren und zu ärgern. Eben was diese nordischen Kobolde so treiben.

Inzwischen aber wird der Begriff Troll immer häufiger insbesondere durch "Alt"-Piraten genutzt, um aufsässige Meinungen, die nicht mit dem von ihnen definierten Verhaltensmustern übereinstimmen, zu diskreditieren, ja auch zu mobben. Was diese Vertreter der ursprünglichen Ein-Themen-Partei übersehen, ist, dass inzwischen die Mehrheit der Mitglieder längst nicht mehr alleine im geistigen Nerd-Umfeld lebt, und auch nicht bereit ist, heiligen Regeln zu folgen, deren Sinn sie nicht erkennen.

Diese Altpiraten sind erschüttert über den Erfolg ihrer eigenen Ideen. Sie hatten sogar schon ernsthaft darüber nachgedacht, wie man sich vor einer "Überfremdung" schützen könnte. Sie leben sozusagen noch im "Mumble-Zeitalter", während die Neumitglieder längst das "Video-Konferenz-Zeitalter" herbei wünschen oder sich vorstellen. (Mit anderen Worten: Mumble ist ein für einfache Computeranwender nicht leicht zu installierendes "Telefonkonferenz"-Programm, was einmal in der Spieleszene entstanden war, damit sich Online-Spieler unterhalten können. Die neuen Mitglieder kommen aus dem Skype-Zeitalter. Sie wollen Installationen mit einem Klick, und anschließend intuitive Nutzung und zwar nicht nur von kratziger Stimme, sondern eben auch von Bild.)

Diese Altpiraten sehen plötzlich wie engagierte Menschen in die Partei strömen, die die Slogans der Partei ernst nehmen. Sie wollen mitmachen. Und dann erschlagen sie eben auch mal die Mailinglisten mit Artikeln, wollen, das ihre Stimme gehört werden, und haben, zum großen Schrecken mancher Gründerväter, manchmal auch noch eine größere Kompetenz als diese selbst.

EIN RAT AN ALTPIRATEN

Ich weiß nicht, wie viele engagierte und kompetente Neupiraten durch diesen Konflikt schon abgeschreckt wurden. Aber ich kann den alten Kämpen nur raten:

"Ihr seid Legende, ihr braucht kein Gorillaverhalten zu zeigen, um die anderen Männchen zu vertreiben. Lasst die Neuen ran. Die Partei ist längst aus den Kinderschuhen entwachsen. Lasst sie in die Welt hinaus gehen."


Wenn die "Alten" Computer- und Netz-Spezialisten sind, sollten sie in der Lage sein, ihre Werkzeuge so zu gestalten, dass sie einfach und für Nichtspezialisten auch leicht nutzbar sind. Wenn sie darauf bestehen, dass neue Mitglieder erst mal einen Twitter-Account aufmachen müssen, und lernen müssen, wie man Wiki-Seiten programmiert, ist das der Aufbau einer Abwehrmauer, aber nicht das Zeichen des Wunsches zur Integration der breiten Öffentlichkeit. Und damit wäre auch der Wunsch nach einer "Revolution" als Traum, aber nicht als Ziel enthüllt. Denn wirklichen Einfluss, eine "Revolution", kann man nur mit Massen bewirken.

Natürlich hat das Ganze auch einen egoistischen, materiellen Hintergrund. Jetzt, da Mandate möglich erscheinen, möchten natürlich diejenigen belohnt werden, die seit Jahren für die Piratenpartei kämpfen. Und auf der anderen Seite drängen viele neue Anwärter auf Mandate auf die Listen, weil sie sich eine schnelle und gut bezahlte Karriere erhoffen. Diese Tatsache, die auch alle anderen Parteien als Bürde tragen, muss die Partei erkennen und akzeptieren.

EIN RAT AN NEUE

Zu aller-erst sucht in Vimeo.com die Videos über die verschiedenen Werkzeuge der Piraten. Informiert Euch über Mailinglisten, Sync-Foren, Mumble, Wiki-Programmierung, Etherpad-Nutzung (Piratenpad), Doodle-Terminvereinbarungen, Liquid-Feedback-Nutzung, Twitter. Nein, ihr müsst das nicht alles sofort verstehen und bedienen können, aber ihr solltet wissen, wovon die "Alten" reden.

Dann versucht nicht übermotiviert an die Dinge heran zu gehen. Wenn ihr mit zu vielen, vielleicht auch guten Vorschlägen, auf einmal auftretet, wenn ihr zu viel Hilfe anbietet, wenn ihr einfach zu engagiert seid, werdet ihr bei länger dienenden Parteimitgliedern eine Abwehrhaltung erzeugen. Schleicht euch lieber ein, gewinnt das Vertrauen, indem ihr erst mal eine Hierarchie akzeptiert, von der die Piratenpartei behauptet, dass es sie gar nicht geben würde.


AUSBLICK

Die nächsten zwei Jahre werden zeigen, wie die Partei diese Phase überstehen wird. Wird das "Establishment" in der Lage sein, neue Shooting Stars zuzulassen, auch wenn sie sich nicht in ihr Weltbild einfügen lassen wollen? Werden sie in der Lage sein, tolerant und nachsichtig zu sein, statt pauschal mit Begriffen wie Troll und Sockenpuppe um sich zu werfen? Werden sie bereit sein, einfach zu bedienende Werkzeuge zu entwickeln, statt darauf zu bestehen, dass neue Piraten sich die Nerd-Werkzeuge einer vielleicht schon bald vergangenen Periode aneignen müssen?

Wenn die Piratenpartei das schafft, könnte sie wesentlich mehr bewegen und verändern, als jede andere Partei vorher, seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland.

Revolutionen werden heute nicht mehr mit Gewehren, sondern mit Gesetzen gemacht!


1 Kommentar:

  1. Aus Mailingliste:

    naja, selbstverliebte Eigenansichten, nicht mehr.

    "Am meisten dürften darunter die Gründer leiden, sehen sie doch, wie ihr sorgsam gepflegtes Nerd-Image immer stärker verwässert wird, und sich immer mehr Neupiraten zur Wort melden und einfach nicht durch die Autorität der Altvorderen beeindrucken lassen wollen."

    stell Dir vor, es gibt Menschen mit Weitblick:
    "It is not viable to collect politically interested people and tell them, where they have to stop thinking" (Jens Seipenbusch, 2006)
    http://pp-international.net/phpBB3/viewtopic.php?f=39&t=408&p=5612#p5612


    auf den Rest von dem peinlichen und voruteilsbelasteten Rant gegen Altpiraten will ich hier gar nicht eingehen... aber Jo scheint Firmenanteile von InterActiveCorp (u.a. vimeo.com) zu besitzen

    Beste Grüße,
    Jens

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