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Freitag, 23. März 2012

Das Jahr der Entscheidung


Jedes Jahr ist irgendwie ein Jahr der Entscheidungen. Jedes Jahr scheint das wichtigste aller Jahre zu sein. Jedenfalls habe ich seit vielen Jahrzehnten diesen Eindruck. Und tatsächlich stimmte das, rückwirkend gesehen auch.


Da war die verpasste Chance, nach Zusammenbruch des Sowjetreiches endlich eine drastische Abrüstung zu betreiben. Da war die verpasste Chance des Atomkraftaussteiges nach Tschernobyl. Da war die verpasste Chance, mit der Wiedervereinigung nicht einfach ein marodes Staatswesen „aufzukaufen“, sondern eine neue gemeinsame Gesellschaft Gleichberechtigter zu entwickeln. Da war die verpasste Chance, durch die Globalisierung mehr Gerechtigkeit, weniger Hunger und eine faire Weltgesellschaftsordnung zu schaffen. … Es waren die Jahrzehnte der verpassten Chancen. Trotzdem schien sich alles zum Guten zu wenden, den meisten Menschen ging es immer besser, was die moralische Leere der Politik erfolgreich übertünchte. Den Randgruppen wurde zugerufen, dass sie sich einfach integrieren müssten, dann würde auch für sie alles besser werden.

Aber seit ich aus dem Ausland zurück bin, stelle ich fest, dass diese heile Welt Risse bekommen hat. Widersprüche werden immer offensichtlicher, die heile Welt der Gier, Finanzblasen und des ungebremsten Kapitalwachstums hat sich als potemkinsches Dorf erwiesen.

Und dieses Jahr wird sich zeigen, ob die deutsche Gesellschaft reif ist für eine neue Revolution. Aufklärung und freier Fluss von Informationen statt Zensur, Wissen für jeden jederzeit im Internet fast kostenlos verfügbar, statt reduziert auf Bibliotheken, teure Publikationen und Universitäten. Abrüstung und Sicherheit durch Ausgleich und Fairness statt Drohung und Krieg. Bürgerbeteiligung und mehr Basisdemokratie oder autoritäre und hierarchische Technokratie. Das sind einige der Schlagworte, die die Menschen bewegen, die nach Alternativen suchen.

Natürlich wird nicht alles in einem Jahr entschieden. Aber Deutschland wird dieses Jahr die Weichen stellen, ob die Gesellschaft eine Chance hat, diese Richtung einzuschlagen. Werden die Wähler diesen Weg gehen?

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT

Renaissance nannte man die Wiedergeburt, Rückbesinnung auf ursprüngliche Werte und Formen. Und die Gesellschaft steht vor einen Renaissance der Politik. Der Wähler kann entscheiden zwischen einem „weiter wie bisher“ und einem „vorwärts zu alten Werten“. Sie werden Fragen, wie das? Ausgerechnet eine Partei, die mit Computern und dem Internet groß geworden ist, soll uns „zu alten Werten“ führen?  Nun, wenn man die Forderungen der Piraten analysiert, erkennt man, dass eigentlich alles schon einmal Teil eines anderen Gesellschaftsprinzips war:

Liberalität: Freiheit ist für die meisten so genannten „Liberalen“ längst zur Freiheit für einige Wenige geworden. In manchen Ländern unterstützten so genannte Liberalen Militärcoups, in Deutschland setzen sie sich für die Freiheit des Kapitals und grenzenloses Wachstum ein. Die wahren liberalen sind längst die Piraten. Sie setzen sich ein gegen Zensur, gegen Bevormundung, für kostenloses Wissen ein, und werden nur noch durch eine einzige Spitzenpolitikerin der Altliberalen dabei unterstützt.

Gerechtigkeit: Die meisten werden zu jung sein, um sich zu erinnern. Aber kurz nach dem Krieg hatte die deutsche Gesellschaft ernsthaft an eine Verpflichtung des Kapitals geglaubt, ja sogar ins Grundgesetz geschrieben. Ebenso wie die paritätische Mitbestimmung in der Montanindustrie. Sie sollte das Modell für eine gerechte und solidarische Gesellschaft darstellen. Stattdessen findet man heute gesunkene Reallöhne, gesenkte Sozialausgaben, aber überbordende Verwaltungskosten. Ist da die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens nicht endlich ein neues Konzept um die alten Ideen der Gründerväter wieder aufzugreifen?

Demokratie und Freiheit: Waren es nicht die Gründerväter der Bundesrepublik, die die Geschichte Deutschlands zum Anlass genommen hatten, mehr Demokratie zu fordern, Pluralismus, und Machtkontrolle durch Föderalismus? Waren nicht die Rechte des Einzelnen durch das Grundgesetz geschützt worden? Und was wurde aus diesen Rechten? Was ist heute von ihnen übrig geblieben?

Frieden: „Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen“. Dieser Satz, unter dem Eindruck unglaublichen Leids, das Deutschland über die Welt, aber auch die eigene Gesellschaft gebracht hat, ist längst nur noch die Worthülse übrig geblieben. Längst kämpfen deutsche Soldaten wieder in Kriegen an vielen Stellen in der Welt mit, um politische und wirtschaftspolitische Interessen zu schützen. Wie es sogar ganz offiziell im Weißbuch der Bundeswehr steht. Aber spätestens nachdem der vorletzte Bundespräsident das Amt vorzeitig verlassen hatte, weil er nichts anderes als die Wahrheit gesagt hatte, dürfte diese Tatsache auch ins Bewusstsein der Menschen gedrungen sein.

Reicht das um die Notwendigkeit einer Renaissance aufzuzeigen?

DAS SPIEL MIT DER ANGST

Seit über 60 Jahren hat uns eine selbsternannte Elite mit neuen Regeln und Gesetzen erklärt, sie würde alles immer besser machen, und sie wüsste schon was sie täte. Und immer wurde vor „Experimenten“ gewarnt, vor Gefahren, vor dem „Anderssein“. Und Angst war immer einer der Haupttriebfedern für Wähler.  Zuerst war es Angst vor Hunger, Not und Krieg. Diese wurden dann durch andere Ängste ersetzt.

Angst vor Ausländern, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor sozialer Unsicherheit, Angst vor Kommunismus, Angst vor langen Haaren, Angst vor Kriminalität. Es funktionierte Prima. Aber im Laufe der Zeit zeigten sich Widersprüche und Lügen immer deutlicher.

Die Versprechung, man würde keinen Krieg mehr führen war eine Lüge. Alles fing mit Kosovo an, und heute bereitet sich Deutschland darauf vor in allen Weltteilen Kriege zu führen. Angst vor Ausländern wurde längst durch die tägliche Zusammenarbeit am Arbeitsplatz als nationalistische Ausgrenzungspolitik entlarvt. Angst vor Arbeitslosigkeit wurde längst zum Prinzip des Arbeitsmarktes. „Wenn Sie den Job nicht wollen …“ Nicht nur die materielle Sicherheit vor Arbeitslosigkeit wurde immer weiter abgebaut, sondern der Missbrauch, Arbeitslosigkeit als Hebel zum Absenken des Lohnniveaus einzusetzen, wurde längst Alltag. Angst vor sozialer Unsicherheit ist wird nun nicht mehr als Drohung an die Wand gemalt, sondern wurde längst zur anerkannten Politik, ausgerechnet eingeführt von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Angst vor Kommunismus löste sich mit der Auflösung des Sowjetreiches ganz einfach in Luft auf. Angst vor langen Haaren gibt es heute nicht mehr, weil die Menschen gelernt haben, dass die Länge der Haare längst kein Erkennungszeichen für irgendeine Eigenschaft oder auch nur Geschlecht ist.

Welche Ängste funktionieren heute noch?

Nun die Angst vor „Terrorismus“, die Angst vor Kriminalität, die Angst vor Experimenten in einer gefährlichen Zeit, sie sind heute die Hauptargumente der etablierten Parteien. Neu hinzugekommen ist die Angst vor dem Zusammenbruch des Euros bzw. des Finanzwesens. Dabei vergessen die Politiker, dass diese Gefahren schon seit der Gründung der BRD vorhanden waren, und dass sie, diejenigen, die Deutschland in die heute Lage gebracht haben, offensichtlich nicht in der Lage gewesen waren, diese Gefahren zu bändigen.

Terrorismus wird ganz offensichtlich durch Drohung, Gewalt und Krieg nicht weniger, sondern immer weiter verbreitet. Kriminalität wird durch den unbändigen Egoismus und die Gier von gewissen Kreisen der Gesellschaft geradezu angespornt. Und die Angst vor dem Finanzcrash versuchen Liberale mit noch mehr Liberalismus zu bekämpfen. Was dazu führt, dass diejenigen die arbeiten immer ärmer, diejenigen die Kapital besitzen immer reicher und mächtiger werden. War nach dem Krieg noch der Staat derjenige gewesen, der die Finanzpolitik aus gutem Grunde bestimmte, sind es heute längst die „Märkte“ geworden. Jene Gespenster, die aus gesichtslosen Managern bestehen, welche mit mehr Finanzmitteln als die meisten Staaten jonglieren. Und dann wäre da noch die Angst vor Experimenten.

„Keine Experimente“ hieß einmal der Slogan einer großen deutschen Partei, und im Prinzip verbreiten die „Altparteien“ heute die gleiche Angst vor den Piraten. Dabei sind es doch ihre eigenen Experimente, die das Land, die Europa, die die Welt in die jetzige Krise geführt haben. Die ungehemmte Freiheit derjenigen, die Geld besitzen, das Abtreten von Souveränität an „die Märkte“, das immer ungehemmtere Schöpfen von Geld durch private Banken. Die „Globalisierung“ und „Privatisierung“ die zusammen mit einer verfehlten Geld- und Finanzordnung zu einer Verarmung und Verschuldung der Länder und einer Enteignung der Menschen geführt hat.

Die Menschen beginnen zu begreifen, dass der Slogan „Keine Experimente“ lediglich bedeutete: Keine Experimente zulasten dieser Parteien und gewisser Kreise der Welt. Die Wähler beginnen zu begreifen, dass sie von diesen Politikern keine Konzepte erwarten dürfen, die echte Alternativen sind. Sie begreifen, dass sie selbst gefordert sind, nach einer Lösung zu suchen und sie umzusetzen. Sie begreifen, dass eine Art Renaissance, andere sagen, eine Revolution, notwendig ist. Nämlich das Regieren von Unten nach Oben, so wie es die Gründerväter einmal vorgesehen hatten. Und nicht das Regieren von Oben nach Unten.

DAS JAHR DER ENTSCHEIDUNG

Aber die Piratenpartei, auf die sich nun alle Aufmerksamkeit fokussiert, steht vor einer ungeheuren Aufgabe. Von ihr wird erwartet, genau diese Konzepte bis zum zweiten Parteitag im Jahr 2012 entwickelt zu haben, und dann den Menschen vorzustellen. Die Piratenpartei legt dann den Welpenschutz ab und begibt sich unter das Rudel.

Ich weiß, wie in allen Teilen der Piratenpartei heftig und leidenschaftlich um Alternativen gerungen wird. Ich bin aufgeregt und stolz, selbst Teil dieses Erweckungsprozesses in einer Gesellschaft zu sein, die sich nicht länger bevormunden lassen will. Aber es gibt auch Stimmen, die noch gar nicht wollen, dass die Piraten aus dem Welpenschutz entlassen werden. Die sich auf „Kernthemen“ konzentrieren wollen, und sich nicht die Finger an schwierigen Themen verbrennen wollen. Diesen Piraten möchte ich sagen:

Lasst die Deutsche Gesellschaft nicht alleine mit ihren Sorgen und Problemen! Die Piraten sind die Hoffnung, dass eine der ersten großen Industriegesellschaften der Welt beginnt, sich auf Grundwerte von Freiheit unter Beachtung von Moral, Ethik und Vernunft, Gleichheit als Begriff für Chancengleichheit, Brüderlichkeit unter dem Eindruck von Verantwortungsbewusstsein und Solidarität zu besinnen.

Die nächste Revolution wird nicht mit Gewehren, sondern mit Stimmzetteln und Gesetzen gemacht.



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