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Freitag, 13. Juli 2012

Neue Piraten, wichtigere Piraten und das Demokratieverständnis


Nachdem ein Teil des so genannten Partei-Establishment mittels einer Twitter-Aktion massiv auf eine Personalwahl beim LPT NRW 2012.3 eingewirkt hatte, und mich dies daran erinnerte, wie der von mir ansonsten geschätzte UrbanP1rate mir einmal erklärte, dass er „manipulieren wolle“ um sein politisches Ziel zu erreichen, füllen sich immer mehr Blogs mit der Diskussion über Alt- und Neupiraten und was überhaupt piratige Werte wären. Außerdem besteht offensichtlich große Unklarheit darüber, was progressiv und politisch innovativ ist, und was nur scheinbar progressiv und eigentlich angepasst ist. Da ich also das Gefühl habe, dass  es grundsätzliche Probleme der Definition von „progressiver Politik“, „Basisdemokratie“ und „alternative Politik“ gibt, will ich versuchen, die herrschenden Missverständnisse aufzuzeigen.

WAS DARF EIN MEINUNGSMULTIPLIKATOR SAGEN?

Als ich einmal über Twitter auf drei konkurrierende Initiativen hinwies, und um Abstimmung bat, machte UrbanP1rate alleine für eine der drei Initiativen aktive Twitter-Werbung. Darauf angesprochen, ob er es nicht für richtiger halten würde, auf Grund seiner besonderen Stellung als Abgeordneter neutraler aufzutreten, weil man das ansonsten als „Manipulation“ ansehen könnte, antwortete er, dass er „ja manipulieren wolle“. In dieser Historie sehe ich auch die Twitter-Aktion einiger Abgeordneten des NRW-Landtages, die dadurch versuchten, Einfluss auf die Personalwahlen auf dem LPT 2012.3 zu nehmen. Die Frage ist nicht, ob dies „erlaubt“ ist, sondern ob dies mit dem Respekt vor der beschworenen Weisheit der Basisdemokratie bzw. des „Schwarms“ eine angemessene Reaktion war. In jeder anderen Partei hätte man das als normal ansehen können. Aber in der Piratenpartei? In einer Partei, in der man keine Delegationen während Parteitagen zulässt, weil dies angeblich undemokratisch wäre?

Andererseits könnte man zu der Auffassung kommen, dass dies vielleicht normal ist in dieser Partei. Wie sonst kann man erklären, dass hunderte von Delegationen, meist von Neupiraten, die nur wenig Ahnung haben, was mit diesem Stimmrecht gemacht wird, im elektronischen Abstimmsystem zugelassen werden, andererseits hunderte von Stimmberechtigungen über Nacht ohne Legitimation, Begründung und ohne Vorwarnung entzogen werden. Um nur einige Beispiele für seltsame Widersprüche zu nennen.

Eines der wenigen Mitglieder, die ihre Verantwortung wohl erkannt hat, weshalb sie sich niemals direkt und zu eindeutig in eine Richtung äußert, ist Afelia. Sie geht Konflikten aus dem Weg, reagiert auf kontroverse Themen nicht oder in einer Weise, die man als „diplomatisch“ bezeichnen könnte. Wenn die Emotionen zu hoch schlagen, nimmt sie dann doch von Zeit zu Zeit viel beachtet, aber immer noch sehr zurückhaltend Stellung. Wie in Ihrem Blogbeitrag über ‚Das „Liebe-Neupiraten“-Problem‘ (1) Aber auf den Beitrag will ich später zurückkommen. Ich denke ihr Verhalten verdeutlicht die Grenzen und Möglichkeiten der Äußerungen von einflussreichen Mitgliedern.

Zurück zur Frage, ob und wie Meinungsmultiplikatoren, ebenso wie in anderen Parteien, manipulieren dürfen, möchte ich mit einem klaren NEIN beantworten. Denn wenn wir uns als basisdemokratische Bewegung verstehen, müsste die „Manipulation“ genau in die andere Richtung gehen. D.h. die Basis, die Mehrheit der Piraten, sollte eigentlich die Mandatsträger und andere Meinungsmultiplikatoren beeinflussen. Wenn das Gegenteil hiervon passiert, unterscheiden wir uns eben nicht mehr von anderen Parteien.

Darüber hinaus möchte ich sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass wir uns noch weiter in der politischen Kultur von den etablierten Parteien mit ihrem Hauen und Stechen unterscheiden sollten. Indem nämlich JEDES Mitglied, nicht nur die so genannten Meinungsmultiplikatoren, ein Verantwortungsgefühl entwickeln sollten, nicht zu manipulieren, sondern zu informieren und zu überzeugen. Das bedeutet z.B. im Klartext, dass man nicht nur für eine Initiative wirbt und Zustimmung fordert, sondern dass man zu allen konkurrierenden Initiativen seine Meinung abgibt und INFORMIERT, warum man eine bestimmte Meinung vertritt. Ansonsten sieht man die Mitglieder lediglich als Stimmvieh an, die gefälligst der eigenen Meinung folgen sollen.

PROGRESSIVE / ALTERNATIVE POLITIK

Als Antwort auf die ablehnende Haltung vieler älterer Piraten auf neue Entwicklungen innerhalb der Piratenpartei schreibt Marina in ihrem o.g. Blogbeitrag:
„Glaubt ihr nicht, dass genau wir die Spinner sind, die die Altparteien nicht haben wollen? Denn sie haben sich jahrelang den Arsch aufgerissen und sie haben gearbeitet und sie haben Ideale und diese Ideale in diesem Land umgesetzt. Und plötzlich kommen Spinner, die alles ganz anders machen wollen.“
Sie macht hier den gleichen Fehler, wie viele andere in der Partei. Sie glauben, dass das Eintreten für einige neue Werkzeuge in der politischen Arbeit, für die breite Diskussion eines BGEs, dass die Forderung der Entkriminalisierung von Drogen und der Vorschlag fahrscheinlosen Nahverkehr einzuführen, schon eine grundsätzlich alternative Politik ausmachen würde. Jedoch sind dies nur winzige Teilaspekte der Politik. Dagegen erhält man durch Äußerungen von „führenden Mitgliedern“ der Piratenpartei den Eindruck hat, dass wesentliche ursprüngliche Forderungen relativiert wurden. Wie z.B. die Transparenz bei politischen Verhandlungen. Oder wenn man hört, dass die Piratenpartei „keine Meinung haben müsse“. Verstärkt wird der Eindruck, dass die Piratenpartei eben keine alternative Partei ist, wenn der Eindruck entsteht, dass Wahlergebnisse und Personalwahlen für Mandate wichtiger sind als die Entwicklung politischer Programmatik. (Wobei ich hier von Bundespolitik spreche, nicht von verschiedenen sehr wohl alternativen Landesprogrammen.)

Wenn wir wirklich eine neue politische Kraft werden wollten, hätte kaum der BuVo erklärt, „dass man natürlich gerne einen Minister stellen würde“. Und hätte Tarzun nicht heftig auf grobe Kritik am ESM reagiert, indem er twitterte:
“Finanzdiktatur”. “Ermächtigungsgesetz”. Applaus von Nazi-Esospinnern und VTlern. Mit diesem Feuer zündele ich nicht.”
Mit der Nazikeule gegen kritisches Hinterfragen des ESM ohne jede Differenzierung? Ist das offene piratige Politik, oder angepasste Mainstream-Haltung?

Und wenn ein Abgeordneter gegenüber der Jerusalem-Post erklärt, dass die Piratenpartei eine interventionsfreundliche Politik, also eine Politik, die voll in der Philosophie der derzeitigen Regierung liegt, verfolgen würde, obwohl die Abstimmungen innerhalb der Partei das Gegenteil annehmen lassen, kommen immer mehr Zweifel an „Progressivität“ auf.

Im Gegenteil werden bewusst alternative Ansichten diskreditieren, verleumden, totschweigen, versuchen weg zu drängen, statt sich mit ihnen auseinander zu setzen. Und heraus kommt … eine äußerst angepasste und „brave“, koalitionsfähige Bundespolitik, oder eben gar kein Programm. Was schließlich den Abgeordneten vollkommen freie Hand lässt.

IST DIE PIRATENPARTEI ÜBERHAUPT EINE POLITISCHE PARTEI?

Mit Recht verweisen die Landesverbände auf große und ausgedehnte Wahlprogramme. Und besonders in NRW gibt es durchaus einige Punkte, die man progressiv und innovativ nennen könnte. Schauen wir uns die Bundespolitik an, drängt sich der gegenteilige Eindruck auf.

Seit der Gründung gibt es lediglich ein „Flickenteppich“ von Einzelinitiativen. Aber keine diese Initiativen (lasse mich gerne korrigieren) betrifft die großen und wichtigen, die elementaren Fragen der Bundespolitik: Wie soll die zukünftige Geld- und Wirtschaftsordnung aussehen, Welche Außenpolitik halten wir für richtig, Wie sieht eine zukünftige Sozialgesetzgebung (das BGE ist nur ein Teilaspekt) aus, wie stellen wir uns zu Fragen die über Krieg oder Frieden, über Leben und Tod entscheiden.

Lässt dann das immer wieder  aufflammende „sich auf die Kernthemen konzentrieren“ von einigen älteren Mitgliedern nicht den Eindruck aufkommen, als ob man lediglich eine Lobbygruppe wäre, die gerne Teil des Systems werden würde, um einige Partikularinteressen durchzusetzen?

Der Bundesparteitag 2012.2 wird zeigen, ob die Partei in der Lage sein wird, ein rundes und überzeugendes, und vor allen Dingen ALTERNATIVES Politikkonzept anzubieten.

SUPAHELDS GRUNDSÄTZE

Afelia hat die Aufzählung von Supaheld erwähnt, die Grundsätze enthält, gegen die tagtäglich in der heutigen innerparteilichen Diskussion verstoßen wird.
„1. Jeder Mensch ist gleich, jeder hat dieselben Rechte. Niemand wird aufgrund von irgendetwas diskriminiert.

2. Wir stehen für ein möglichst frei gestaltbares Leben aller Menschen. Für eine Gesellschaft sind Regeln notwendig, aber minimal zu halten, um niemanden in seiner Entfaltung zu stören.


3. Wir sind eine Solidargemeinschaft. Die Stärkeren helfen den Schwächeren.


4. Grundrechte werden geschützt und gestärkt.


5. Politische Prozesse und Entscheidungen sind jederzeit möglichst offen und transparent zu gestalten und Betroffene und Interessierte so weitgehend wie möglich zu beteiligen.


6. Wir verstehen uns als eine weltweite Bewegung.“
Ich würde diese Auflistung gerne an drei Punkten noch erweitern bzw. eindeutiger von der Aussage einer Lobby-Organisation abgrenzen:
„Zu 2.
Wir stehen für ein möglichst frei gestaltbares Leben aller Menschen. Für eine Gesellschaft sind Regeln notwendig, aber minimal zu halten, um niemanden in seiner Entfaltung zu stören. Gleichzeitig muss aber verhindert werden, dass die Entfaltung Einiger, zu Lasten der Entfaltung Anderer geht.

Zu 3.

Wir sind eine Solidargemeinschaft, und wir setzen uns für eine solidarisch organisierte Welt ein.

Zu 6.

Wir verstehen uns als eine weltweite Bewegung und setzen uns für Frieden, Toleranz und respektvolle gegenseitige Behandlung aller Menschen ein.
KOMMT NICHT, WENN IHR NICHT GENAU SO SEID WIE WIR

Afelia wünscht sich eine plurale, vielseitige, bunte und intensiv diskutierende Partei. Sie schreibt:
„Mich stört an dieser Altpiraten-Neupiraten-Denke die Einstellung: “Wir haben das schon immer so gemacht und wir möchten unter uns bleiben. Kommt nicht, wenn ihr nicht genau so seid, wie wir.” Weil das eine Haltung ist, die wir immer abgelehnt haben.“
Damit hat sie unterstrichen, was auch die Fakten beweisen. Denn es gibt noch gar keine eindeutige Richtung der Partei. Es gibt keine umfassende politische Programmatik. Und wer behauptet, dass die bisherigen Thesen der Partei ausreichen würden, der würde auch behaupten, dass kein Verkehrsrecht notwendig ist, weil es ja die allgemeinen Menschenrechte gibt. Will sagen: Wer Andersdenkende ausgrenzen möchte, sie aus der Partei fern halten möchte, der muss zunächst ein Parteiprogramm entwickeln, in dem die Kernfragen der Politik eindeutig beschrieben sind.

So lange das nicht der Fall ist, ist es schier unmöglich, Menschen aus der Partei fern zu halten, die den Grundsätzen der Partei nicht entsprechen, es sei denn man arbeitet mit Mobbing oder Teufelsaustreibungsprozessen.

DEMOKRATIEVERSTÄNDNIS

Ein Kommentator von Afelias Blogbeitrag (4) schreibt:
„Die Frontlinie ist dort, wo Grundwerte und Grundüberzeugungen angegriffen werden. Warum müssen Piraten jetzt auf Mitgliederversammlungen auf breiter Front erklären, warum sie gegen Videoüberwachung sind?“ 
Die Antwort ist simpel. Wir müssen das tun, weil wir nicht als Eintrittsbedingung das Akzeptieren des Widerstandes gegen Videoüberwachung genannt hatten. Was ich sagen will ist: Wenn eine Partei sich verdoppelt oder verdreifacht, kann nicht einfach eine Minderheit erklären „darüber diskutieren wir nicht mehr“. Schließlich ist Demokratie ein schwieriger und langwieriger Entwicklungsprozess, nicht die Beschreibung eines Status Quo. Es geht darum, ständig für Mehrheiten von Positionen zu werben. Es geht darum, sich der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen. Und dabei gibt es keine Tabus. Und wenn die Mehrheit der Partei eines Tages sagt: „Ja wir wollen, dass VDS endlich eingeführt wird“, dann hat die Partei das zu akzeptieren. So wie auch die Grundlagen der Demokratie durch einen ESM in Frage gestellt werden können, und nur die Frage der Legitimation dieser Veränderung zu entscheiden ist. Denn selbst die so genannten „unabänderlichen“ Teile des Grundgesetzes sind letztendlich veränderlich. Im Zweifel durch eine neue Verfassung. (4)

D.h. wer sich zur Demokratie bekennt, kann nicht ausschließen, dass sich eine Partei verändert, und theoretisch eines Tages selbst das Gegenteil dessen vertritt, was die Gründer einst im Sinn hatten. In der Demokratie gibt es keinen Absolutheitsanspruch. Gerade das ist die Stärke der Demokratie. Denn sie ermöglicht Veränderung ohne Gewalt und Blutvergießen. Das Zulassen von Veränderung ist daher eines der wichtigsten Merkmale demokratischen Verhaltens.


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(1) http://www.marinaslied.de/?p=742

(2) http://www.radio-utopie.de/2012/06/26/nazi-esospinner-piratenpartei-bundesvorstandsmitglied-peukert-verleumdet-esm-gegner/ und http://jennyger.blog.de/2012/06/26/piraten-bundesvorstandsmitglied-peukert-bezeichnet-esm-gegner-als-nazi-esospinner-13942847/

(3) http://www.marinaslied.de/?p=742#comment-5392

(4) http://de.wikipedia.org/wiki/Ewigkeitsklausel


2 Kommentare:

  1. Ahoi jo,

    Du sprichst viele Punkte an.
    Die populär gewordenden Piraten sind meines Verständnisses ähnlich wie Abgeordnete im Bundestag zu sehen. Sie unterliegen nur ihrem Gewissen, ansonsten werden Sie abgewählt/unpopulär.
    Wir haben seit Jahrtausenden in den Gesellschaften soziale Machtanhäufungen und dies wird in der nahen Zukunft auch so bleiben.
    Wir können nur feiner und gerechter gestallten. Wenn sich ein Bürger Ansehen in der Gemeinschaft erarbeitet hat, wird dies meist gewürdigt, und er erhält somit mehr Einfluss. Der Unteschied liegt hier in der Legetimierung und den Motiven.

    Ich, als neuer folgte zB. auf Twitter auch ersteinmal den Populären, die Anderen, lokalen Piraten kannte ich ja noch garnicht. Mir dient dies auch mehr als Newsfeed, hier kommt man schnell an aktuelle Piratenthemen. Das hier auch Meinungen vertreten werden finde ich selbstverständlich, doch nicht jeder Follower ist ein DAU ;)

    Wie sich dies im LQFB wiederspiegelt finde ich hinterfragungswürdiger. Hier sollte es weiter Entwickelt werden, damit man die "richtigen" deligierten findet (zB WahlOmat).

    Diese ganze interne hektik verstehe ich nur bedingt.
    Wir haben doch Zeit! 2013, so what.
    Wir müsseen den Bügern doch nur erklären, das unser Weg das Ziel ist. Und wie dieser Weg aussieht!
    Interne Parteientwicklungen/programme sollten mit Zeit und Ruhe vorrangetrieben werden, ansonsten erhalten wir überschnelle Entscheidungen, und die sind meisten ja nicht wirklich super.

    Die Partei wird sich "demokratisch" verändern, doch manchmal müssen wir wohl auch einschreiten.
    (zB wenn uns so was wie Naumann passiert http://de.wikipedia.org/wiki/Naumann-Kreis )

    Der beste Uboot ist das aktuelle Piraten Chaos, die UBootbesatzungen können mit soetwas wohl nur schwer umgehen ;)

    Altruistische Grüße
    yoo

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    1. Sollte "Der beste Uboot schutz ist das Piraten Chaos" werden.
      yoo

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