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Dienstag, 7. August 2012

Was ich unter Beteiligungs-Demokratie verstehe

Wenn man so etwas länger in der Piratenpartei lebt, bemerkt man, dass es doch nicht wenige Menschen gibt, die die Partei nicht als Basis zur Diskussion einer politischen Programmatik ansehen, sondern als Sprungbrett für ein Mandat mit dadurch anschließend garantierter Karriere. Sie laufen von Stammtisch zu Stammtisch, ganz im Sinne von „Würstchenwendern“ und versuchen möglichst viele Menschen für sich einzunehmen. Wenn sie merken, dass sie durchschaut werden, bekämpfen sie diejenigen entweder, oder versuchen ihnen aus dem Weg zu gehen und hinterrücks mit einer Schlammkampagne Unsicherheit und Zweifel zu säen.

Man kann sie leicht von anderen, engagierten „Überzeugungstätern“ unterscheiden. Denn sie sind zwar bekannt, aber politisch ein unbeschriebenes Blatt. Weder haben sie, manchmal sogar trotz einschlägigen Studiums, viele wissenschaftliche Veröffentlichungen gemacht, mit denen sie für ihre politische Programmatik werben, noch kann man ihre Meinung auf einem Blog verfolgen. Sie sind das Überraschungspaket, das gewählt wird, weil das Gesicht bekannt ist. Man könnte sie auch die „Büchse der Pandora“ nennen.

Ihr Hauptaugenmerk ist darauf ausgerichtet, politisch keine Extrempositionen zuzulassen. Davon ausgenommen sind einige, die für die Gesamtpolitik eher relativ nebensächlich sind, wie Vorratsdatenspeicherung oder die Diskussion um den Schutz der Verwerter von „geistigen Eigentum“. Ansonsten beziehen sie sich oft auf die so genannten „Kernthemen“ und wiederholen allgemein gehaltene Grundsatzpositionen, die Parteitage einmal beschlossen haben.

Sie versuchen, in Ämter gewählt zu werden, um ihre Gesichter bekannter zu machen, weil in einer Akzeptanzwahl so die Wahrscheinlichkeit hoch ist, auf eine Liste gewählt zu werden. Und wenn sie nicht gewählt werden, besetzen sie Positionen durch Selbsternennung oder durch „Netzwerken“. Einmal erreicht, gibt es keinen Weg zurück. Entweder lassen sie sich eine Stufe höher wählen, oder klammern sich an die eroberte Position. In der Regel findet man in der E-Mail-Fußnote auch ihren vollständigen "Titel", und meist verwenden sie auch den Piraten-Account, um ihre E-Mails noch offizieller wirken zu lassen.

Ach ja, und in der Regel sind es glühende Verfechter der Freiheit des Mandates, ohne Rücksicht darauf, dass es einen riesigen Unterschied zwischen einem Listen- und einem Direktmandat gibt. (1)

DIE BETEILIGUNGSDEMOKRATIE

Meine Vorstellung einer alternativen Partei sieht da etwas anders aus. Das beginnt damit, dass ich eine innovative Partei als Chance sehe, eine kooperative politische Gestaltung einzuführen, um die Partei so weit als möglich unabhängig von Personen zu machen. Gleichzeitig kann diese Struktur die Chance eröffnen, Menschen voran zu bringen. Ihre Potentiale werden erschlossen, man verschafft ihnen Selbstvertrauen und Erfolgserlebnisse, was ihre Persönlichkeit stärkt. Wodurch die Basis als Ganzes gestärkt wird.

Gehen wir von einer der kleinsten und am wenigsten formalen Vorgaben unterworfenen Einheiten der Partei einmal aus. Eine AG hat meist viele Personen die ähnliche Fähigkeiten haben. Aber viele Mitglieder können sie nicht entwickeln, entfalten oder beweisen, weil sie nie die Chance dazu erhalten. Und nach einer gewissen Zeit glauben sie selbst daran, dass der oft selbsternannte oder auch schon mal per Peinlichkeitsakklamation zum Koordinator gemachte Chef es eben am besten kann. Auf dieser Ebene ist es vollkommen ungefährlich, eine rotierende Koordinatenrolle einzuführen. Was spricht dagegen, alle drei Monate die Koordination an andere Mitglieder zu übergeben? Wenn der erste Koordinator wirklich am Gelingen der AG interessiert ist, wird er bereit stehen, um zu assistieren, zu helfen, wenn es holprig wird. Und selbst wenn es holprig wird, sind wir nicht der Schwarm, der das ausgleicht?

Wenn man nun die politischen Ämter im Kreis, im Land und im Bund ansieht. Warum ist es für eine moderne, beteiligungsdemokratische Partei nicht möglich, ein Wiederwahlverbot für den Vorstand in der Satzung festzulegen (Ausnahme Schatzmeister). Wenn der alte Vorstand wirklich am Wohlergehen der Partei interessiert ist, wird er auch ohne Amt alles tun, um den neuen Vorsitzenden zu unterstützen. Und jedes Jahr kann ein neues Mitglied Erfahrung sammeln und Profil zeigen, und vor allen Dingen die wirklich innovativen Gedanken der Beteiligungsdemokratie voran tragen. Gerade in einer Partei, in der der Vorstand behauptet, lediglich Verwaltungstätigkeiten auszuführen, sollte es absolut kein Problem sein, diese Regelung einzuführen.

„Die Presse will Gesichter“. Machen wir Politik für die Presse, oder weil wir eine neue Politik einführen wollen? Und außerdem sieht man an Afelia, dass Gesichter auch ohne Amt wirken können.

DIE TOLERANZ

Heute habe ich getwittert: „Das gibt Gedränge in der Mitte. @BuBernd grenzt nach links ab, @UrbanP1rate nach rechts. Rückt zusammen #Piraten.“ Was ich damit sagen wollte ist, dass wir uns schon stromlinienförmig machen, bevor wir überhaupt die Programmatik ausdiskutiert haben. Die Piratenpartei hat, im Gegensatz zu anderen Parteien, nicht mit einem Parteiprogramm begonnen, und dann die Mitglieder für diese Programmatik geworben, sondern wollte es "im Schwarm" entwickeln. Und nun beginnt man schon fast hysterisch alles irgendwie „umstrittene“ auszugrenzen. Gerade so, also ob die Piraten nicht selbst einmal als Dissidenten angetreten wären. Wo soll das hinführen, wenn ein Bundesvorsitzender sagt, dass wir „keine Meinung dazu haben müssen“. Gleichzeitig aber den Weg (für die Partei) in den Bundestag anstrebt?

Was den Piraten fehlt ist die Toleranz und Bereitschaft sich mit unangenehmen Dingen auseinander zu setzen. Viel zu oft werden die diversen Keulen herausgeholt, um bloß keine „falsche“ Diskussion aufkommen zu lassen. Undifferenziert, einseitig und heuchlerisch. Wir erwarten, dass man unsere Piraten-Positionen ernsthaft diskutiert, obwohl wir wissen, dass andere gegen uns Totschlagargumente einsetzen. Trotzdem benutzen wir aber ebenso Totschlagargumente, um uns vor für uns unangenehmen Diskussionen frei zu halten.

Ich wünschte mir viel mehr Gelassenheit, viel weniger Schielen auf die Presse und auf Wahlergebnisse. Viel mehr Konzentration auf die Auseinandersetzung mit eben jenen „Außenseitern“ und mit der eigenen Programmatik.

Stattdessen wünschte ich mir weniger technische Diskussionen z.B. über Liquid Feedback, bevor man nicht zunächst mit einer Umfrage unter den Piraten, die NICHT im Liquid Feedback aktiv sind, ermittelt hat, was die Mehrheit überhaupt möchte. Wir entwickeln nicht einen Prototypen und horchen dann bei denen nach, die LQFB nicht benutzen, wie sie es denn annehmen würden, sondern wir entwickeln gleich Version 1, Version 2 usw. und diskutieren intensivst innerhalb einer verschworenen Gemeinschaft, die weiß, was für die Partei gut ist, wie LQFB sein muss. Das Lastenheft einer Software wird in der Regel von den BENUTZERN der Software gemacht. Bei uns, so habe ich den Eindruck, schreiben das Lastenheft die Spezialisten, die eigentlich erst das Pflichtenheft schreiben sollten.

MACHTAKKUMULATION

In einer basisdemokratischen und offenen Gemeinschaft passt das zu beobachtende Anhäufen und Benutzen von Macht so gar nicht ins Bild. Die Massendelegationen in LQFB, oder Twitteraktionen von Landtagsabgeordneten zugunsten eines Kandidaten, das geht einfach nicht. Wenn sich dort nicht schnell eine selbstkontrollierende Zurückhaltung entwickelt, wird die Partei genau in die Fahrwasser der anderen Parteien geraten. Und zwar schneller als alle anderen Parteien vorher.

DEDUKTIVES DENKEN UND HANDELN

Egal ob man die LQFB-Initiativen oder Anträge bei Bundes-Parteitagen anschaut. Ein Sammelsurium an unterschiedlichen Ideen und Vorschlägen, die dann von einem damit total überforderten Gremium und Vorstand mühsam zu Themenpaketen geschnürt werden. {Ehrliches Kompliment für die geleistete Arbeit}. Dieses Vorgehen hat einen riesigen Haken, besonders in Verbindung mit der absoluten Freiheit des Mandats, das von den Piraten gefordert wird. Denn es wird unzählige Fälle geben, die nicht durch Parteitagsbeschlüsse abgedeckt sind. Ebensowenig wie von "piratischen Grundsätzen", und schon gar nicht von deren diversen Interpretationen.

Beispiel aus meinem Bereich, der Friedenspolitik. Es gibt dutzende von Anträgen, die gewisse Bereiche der Rüstungspolitik betreffen. Aber es gibt keinen Antrag (außer dem der AG Friedenspolitik,) der versucht, den RAHMEN für Rüstungspolitik zu definieren. Oder es gibt den immer wieder beschworenen fahrscheinlosen Personennahverkehr, aber keine Bundesinitiative, die sich über den Rahmen und die Grundsätze der Verkehrspolitik Gedanken macht. Wir bauen sozusagen einen Nebelscheinwerfer, haben aber keine Ahnung, wie das Auto aussehen soll. {Da mein LQFB-Zugang gesperrt ist, habe ich die evt. neuen Initiativen nicht berücksichtigt}

Es gibt so viele kluge und engagierte Menschen unter den Altpiraten, hat niemand diese Lücke erkannt? Es ist schlichtweg unmöglich, aus den wenigen „piratischen Grundsätzen“ moderne Politik zu definieren. Und so sind Konflikte vorprogrammiert, wenn die Definition defacto den Abgeordneten überlassen wird, und die Mitglieder nur noch Statisten sind „weil man nicht auf einen Parteitagsbeschluss warten kann“. Und die Krücke des „permanenten Parteitages“ wäre lediglich die Zementierung einer Politik-Oligarchie, die das große Einmaleins von LQFB beherrscht und die Netzwerke richtig bedienen kann. Wenn das gewünscht ist, werde ich wohl des Öfteren noch bitterböse Blogartikel schreiben müssen.

Wir haben etwas über Drogenpolitik und Suchtpolitik. Aber keinen gesundheitspolitischen Rahmen, in den die beiden Bereiche sich einfügen. Mit anderen Worten. Wir benötigen dringend eine Bewegung, die die grundsätzlichen Politikfelder untersucht, und nicht Detaillösungen, sondern Grundphilosophie entwickelt. So wie das als Beispiel die AG Friedenspolitik mit den Friedenspolitischen Grundsätzen (3) getan hat. Wenn der Rahmen erarbeitet wurde, kann man von dort ins Detail geben. Das würde ich eigentlich auch von den anderen wichtigen Politikfeldern erwarten. Kann es aber bisher nur ansatzweise oder sehr vage erkennen, wie z.B. an den sechs außenpolitischen Grundsätzen, die während ein paar Stunden durch ein dutzend Teilnehmer der Potsdamer Konferenz erarbeitet wurden. Ich hätte eigentlich erwartet, dass ein Grundsatz-Programm vorgeschlagen worden wäre, zu dem dann dort Kommentare und Verbesserungsvorschläge diskutiert werden konnten.

BESINNEN AUF DIE WURZELN

Was m.E. fehlt ist auch das Besinnen auf die Wurzeln. Mit Wurzeln meine ich nicht die „Kernthemen“, wie es einige fordern, die aus einer politischen Partei eine Lobby-Gruppe, wenn auch für einen beachtlichen Teil der Bevölkerung machen wollen. Sondern die philosophischen Wurzeln. Das Aufbegehren gegen eingefahrene Strukturen, gegen als ungerecht angesehene Gesetze. Das Kämpfen für eine höhere Idee.

Im Landesverband NRW gibt es so etwas noch. Man kann es im Wahlprogramm erkennen. Der Kampf gegen Bertelsmann, die Forderung für Atomkraftwerke eine Haftpflichtversicherung einzuführen, der Schutz für Whistleblower in der Gesundheitsindustrie. Aber auch hier gibt es bereits Abnutzungserscheinungen. Der Arbeitskreis „Whistleblower“, der für den Tag der politischen Arbeit in Köln angesetzt war, fand mangels Teilnehmer nicht statt. Die meisten stürzten sich auf die pekuniären Themen.

FAZIT

Wir sollten wirklich überlegen, ob wir eine Partei sein wollen, die alles dem Ziel unterordnet in den nächsten Bundestag zu kommen. Oder ob wir eine Partei sein wollen, die eine starke und motivierte Basis weiter entwickelt und beteiligt, damit wir unsere neuen und innovativen Ideen in die Gesellschaft tragen können. Wenn wir das nicht tun, wenn wir lediglich zu einem "Mehrheitsbeschaffer" werden, könnten wir ganz schnell nur noch extrem wenige zahlende Mitglieder haben. 

Wollen wir auf Bundesebene eine gemeinsame politische Programmatik entwickeln und bewerben, oder wollen wir die Partei bleiben „Dazu müssen wir keine Meinung haben“ um damit dann ohne Probleme auch schnell mal eine Koalition eingehen können und einen Minister stellen können, wie von BuBernd erläuterte. (2)

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(1) http://jomenschenfreund.blogspot.de/2012/03/piraten-mandatsbewerber-sind-sie-anders.html

(2) https://piratenpad.de/p/Friedenspolitik-AG-BUVO-FRAGEN Zeile 24

(3) http://wiki.piratenpartei.de/AG_Friedenspolitik#POLITISCHE_GRUNDS.C3.84TZE_DER_FRIEDENSPOLITIK


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