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Dienstag, 16. Oktober 2012

Wohin taumelt bloß Europa?

Schon zu Beginn der 1970er Jahre begann mein Einsatz für Europa. Als Chefredakteur einer deutsch-französischen Jugendzeitschrift setzte ich mich vehement für die europäische Integration ein. Anschließend lebte und arbeitete ich in Frankreich, Italien und Belgien, immer mit dem Traum eines vereinten demokratischen Europas vor Augen. Als der Euro eingeführt wurde feierte ich, denn ich glaubte den Protagonisten des Euro und sah meinen Traum in greifbarer Nähe. Aber dann begann die Ernüchterung.

Zunächst musste ich tatenlos zusehen, wie demokratische Grundrechte in Deutschland immer stärker, jetzt bis zur Unkenntlichkeit verwässert wurden, sogar wenn sie in der Verfassung festgeschrieben waren: Keine Angriffskriege von deutschem Boden, Verantwortung des Kapitals, Geldschöpfungsprivileg des Staates, Chancengleichheit, Soldat als Bürger in Uniform, Einsatz der Bundeswehr im Inland, Sozialisierung von Gewinnen aus Unternehmungen des Staates. Alles vergessen und beerdigt. ... Nun droht aber dieser schleichende Prozess in einen überzugehen, der einen Sprung darstellen soll in eine neue Zeit. In eine Zeit ohne Werte und Ideale der Väter des Grundgesetzes. Eine Zeit in der Banken über die Geldmenge entscheiden, Spekulanten über die Existenz eines Staates, Kriege zur Absicherung der Privilegien, Konzerne über Arbeitsplätze und Höhe der Gehälter.

Entsetzt wachte ich auf:
Der ESM ist möglicherweise ein Schritt auf dem Weg zu einem antidemokratischen Euro-Zentralstaat!
Dann zitierte der Vorsitzende der nationalistischen UK Independence Party, Nigel Farage Angela Merkel mit den Aussagen:
„Wenn Griechenland den Euro verlässt, werden andere Staaten folgen. Das wäre das Ende unseres europäischen Traumes.“
"Es ist uns völlig egal, ob die Jugendarbeitslosigkeit die 60-Prozent-Marke erreicht. Es ist uns völlig egal, ob 25 Prozent der Privatunternehmen zusammenbrechen. Es ist offen gesagt sogar egal, ob ganz Griechenland zusammenbricht, solange wir das europäische Projekt erhalten.“

Selbst wenn es dabei Übersetzungsfehler gab, oder der zitierende Politiker bewusst verstärkt was gesagt wurde, um seine eigene europafeindliche Agenda zu verfolgen, der Sinn entspricht dem, was Merkel auch an anderer Stelle, z.B. bei Jauch gesagt hatte. Zugleich wurde bekannt, dass Schäuble den EU-Währungskommissar auch offiziell über die Parlamente stellen will. Zitat aus tagesschau.de:
"Wenn es in Zukunft Probleme mit der Haushaltspolitik eines Staates gibt, soll der Währungskommissar schneller und härter intervenieren können als bisher. Budgetplanung problematisch? Zurück ans nationale Parlament damit, Nachsitzen und Wiedervorlage! Defizit nicht im Griff? Okay, dann wird die Lücke eben mit den Subventionszahlungen verrechnet, die das Land erhält. Über solche Fragen soll der Währungskommissar übrigens allein entscheiden dürfen."

Das ist es also, was man unter "Demokratie den Märkten anpassen" meint. Was der Ex-Banker und jetzige Premierminister Italiens meinte, als er sagte, dass die Regierungen die Parlamente stärker "an die Kandare nehmen" müssten. Nicht mehr die gewählten Repräsentanten eines Staates oder Europas bestimmen, sondern ein ungewählter Kommissar einer Behörde die sich im Prinzip gegenüber niemanden verantworten muss, deren führende Köpfe auch nicht bei Verstoß gegen Gesetze irgendwie zur Verantwortung gezogen werden können, da sie schon mit Amtsantritt eine in den Job eingebaute Amnestie für zukünftige Rechtsverstöße erhalten. 

Das waren noch deutlichere Worte als jene, welche mich bereits in einer Rede vor Bankern schockiert hatten, in denen Schäuble von  einer Elite sprach, die den Weg bestimmen müsse.

Das ist nicht das Europa, für das ich mich eingesetzt habe! Wurde ich so getäuscht?

Wenn ich dann von jungen intelligenten Menschen höre, wie sie voller Hoffnung glauben, diese europäische Gesellschaft mit gestalten zu können, die Verfassung mit bestimmen zu können, sehe ich mich wieder zurückversetzt in die Zeit, als ich die Nächte über den Entwürfen der Zeitung verbrachte, für die ich ehrenamtlich gearbeitet hatte. Damals war die Hoffnung nach dem Krieg noch berechtigt gewesen. Im Grundgesetz fand man noch paritätische Mitbestimmung. Die Banken zumindest in Deutschland waren streng reguliert. Niemand konnte sich vorstellen, dass deutsche Soldaten in Jugoslawien oder Afghanistan Krieg führen würden.

Liebe nächste Generation: Schaut Euch die Geschichte an. Und fallt nicht auf die "Sachzwänge" der derzeit Herrschenden herein. Erkennt die Gefahren. Erkennt die Zeichen an der Wand!

Ein Europa, das zusammen gezwungen wird um Banken zu retten, das ist kein demokratisches Europa mehr. Die Menschen müssen wieder die entscheidenden Akteure in der europäischen solidarischen und demokratischen Gesellschaft der Völker werden. Renten, Krankenversicherungen, Hilfen für Bedürftige sind wichtiger als die Rückzahlung von Krediten an Banken. Sie kannten das Risiko, es ist in den Zins eingepreist. Jetzt wird es Zeit, dieses Risiko zu realisieren. Wenn jemand gerettet werden muss, dann der der Rentner, Arbeitssuchende, Kleinsparer.

Glaubt ihnen nicht, wenn das Narrativ lautet: "Wir müssen das tun für Frieden und Wohlstand". Sie glauben es vielleicht sogar, aber deshalb muss es nicht stimmen. Die Elite lebt in einem Netzwerk der Gedanken und Vorstellungen aus denen offensichtlich nur Einzelne es schaffen sich zu befreien. Und die bezahlen einen hohen Preis. Sie verlieren gesellschaftliches Ansehen, Einkünfte. Sie werden bekämpft, verleumdet und ausgegrenzt. So bleibt das Denkgebäude unhinterfragt. Und hier kommt Eure Aufgabe, die der Generation die nach 1968 kam.

So wie die 1968 Generation die nicht aufgearbeitete Nazivergangenheit der Eltern und den Spießermief der Nachkriegszeit zu hinterfragen begann, so müsstet ihr beginnen die Entwicklungen zu hinterfragen, die zu dieser Situation geführt haben. Und ich gebe zu, ich bin mitschuldig daran. Wieso stehen Soldaten in Afghanistan? Warum schuldet der Staat privaten Banken Milliarden? Warum werden die Gewinne aus den wichtigen Unternehmungen, die einmal von den Bürgern des Landes aufgebaut worden waren, privatisiert, wenn es zu Problemen kommt, die Risiken aber doch wieder sozialisiert? Wer hat von dieser Entwicklung der letzten 20 bis 30 Jahre am meisten profitiert? Wer profitiert von der Politik, die jetzt als "unausweichlich" dargestellt wird? Cui bono?
Und dann überlegt Euch, ob es nicht Zeit wäre noch einmal frischen Wind in das verkrustete Establishment zu blasen. Ein Establishment zu dem inzwischen leider auch einige der ehemaligen 1968er gehören. 1968 war ich unter den Jüngsten die sich engagierten. Heute bin ich vielleicht einer der Ältesten. Aber die Initiative muss von EUCH kommen.

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