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Montag, 15. Oktober 2012

Was braucht die Piratenpartei in der Pubertät?

Wenn die Piratenpartei sich in einer Phase befindet, die Beobachter als "Pubertät" bezeichnen, sollte man sich Gedanken darüber machen, wie man diese wichtige Entwicklungs-Phase bestmöglich überwindet. Von John Grey haben wir gelernt, dass es in der Natur des Menschen liegt, misszuverstehen, was der jeweils andere sagt. Daher zunächst eine Analyse:

MIT WELCHEN ERWARTUNGEN KAMEN MITGLIEDER

Das rapide Wachstum der Piratenpartei hat m.E. folgende Gründe, basierend auf Gesprächen, die sicher nicht repräsentativ waren, und meinen Schlussfolgerungen:

1. MITMACHPARTEI

Immer wieder hört man den Grund: "Ich wollte endlich eine Stimme haben. Ich will endlich mitbestimmen, was politisch passiert." Die Menschen kamen zur Partei, weil sie nicht mehr Konsumenten sein wollten, sondern aktiv Einfluss nehmen wollten.

2. HOFFNUNGEN

In der Außenwirkung hat die Piratenpartei nur ein Flickwerk von Programmpunkten, keine deutliche Richtung, kein komplettes Programm. Im Gegenteil waren die Grundsätze so allgemein und allumfassend, dass sich auch fast jeder darin wiederfinden konnte. Daraus entsteht das Phänomen, ähnlich dem vor einer Hochzeit: Das neue Mitglied projiziert seine eigenen Wünsche und Ziele in die der Partei. Denkt, dass die Partei sich in seine Richtung entwickeln wird.

3. KARRIERE

Natürlich gibt es wie überall Mitglieder, die die Partei als Sprungbrett für ihre persönliche Karriere ansehen. Dabei wurde dies in der Vergangenheit fälschlicherweise besonders über neue Mitglieder behauptet. Und doch zeigt gerade dieses Revierschutzverhalten, dass besonders länger dienende Mitglieder das Gefühl haben, endlich für ihren Einsatz belohnt werden zu sollen. Was aber im Prinzip genau das kritisierte Verhalten ist.

Wie kann man diese drei Punkte im Reifeprozess der Partei nun so verarbeiten, dass die Partei nicht an den Konflikten zerbricht, oder sich im Umkehrschluss auch nicht zu einer ganz normalen politischen Partei mit austauschbaren Inhalten und Interessenvertretungen entwickelt?

DIE LAST DES AMTES

Ehrenamtliche Parteifunktionäre der Piratenpartei müssen ein dickes Fell haben. Dabei richtet sich aber leider die Kritik oft eher auf Nebensächlichkeiten, wodurch wichtige Kritik leider oft im Grundrauschen der "Shitstorms" untergeht. Besonders unglücklich finde ich Kritik die sich daran entzündet, dass das Bild der Piratenpartei in der Öffentlichkeit beschädigt würde. Denn eine Partei in der Pubertät sollte sich stärker um die Entwicklung der Persönlichkeit als um das Image kümmern. Ich will versuchen die m.E. wichtigen Kritikpunkte sachlich zu benennen und wäre froh, wenn dagegen die eher weniger wichtigen Kritikpunkte nicht mehr so exzessiv verfolgt werden würden.

IST DAS WIRKLICH DIE AUFREGUNG WERT?

Beginnen möchte ich mit einer aktuellen Diskussion über den Ort des nächsten Landesparteitages NRW, denn ich glaube er kann symptomatisch für viele "Shitstorms" herangezogen werden.

Nachdem der Landes-Vorstand eine Entscheidung für Meinerzhagen als nächsten Ort des Landesparteitages verkündet hatte, erhoben sich sofort Kritiker, die die Entscheidung teilweise mit schärfsten Worten kritisierten. Unabhängig davon, dass eine solche Entscheidung niemals "richtig" oder "falsch" sein kann, weil immer subjektive Bewertungen eine große Rolle spielen werden, sollten sich Kritiker überlegen, welche Wichtigkeit diese Entscheidung im Rahmen der derzeitigen Gesamtsituation der Piratenpartei hat. Ist die Entscheidung es Wert, dass man so viel Energie in die Kritik steckt? Ich denke, dass die Wichtigkeit eher untergeordnet ist, wenn man die großen und wirklich kritischen Zukunftsentscheidungen betrachtet:

WAS IST WIRKLICH WICHTIG?

1. KONSENSFINDUNG ZU LQFB

LQFB bzw. "Liquid Democracy" wird von einem Teil der derzeitigen Führung der Piratenpartei als eines der zentralen Alleinstellungsmerkmale angesehen. Der Durchsetzung der eher akademischen Ideen, die hinter einem System der virtuellen REPRÄSENTATIVEN Demokratie stecken, wird Vorrang eingeräumt gegenüber politischen Programmatik und Einbindung und Nutzung von DIREKTER Demokratie. Dabei sind viele Fragen offen und durch das "Durchpeitschen" eines leicht kritisierbaren Systems wird die Idee selbst in Gefahr gebracht.

Warum ließ es der Vorstand zu, dass LQFB zu einem Werkzeug wurde, das von immer mehr Mitgliedern einfach nicht mehr akzeptiert wird? Warum geht er nicht auf die Kritik ein, unabhängig davon ob sie berechtigt ist oder nicht, und reduziert die Funktionen auf ein Maß, das eben die Kritiker zunächst versöhnt, bis in einem mühsamen Konsensfindungsprozess ein Kompromiss zwischen BASIS-Demokratie und REPRÄSENTATIVER Demokratie gefunden wurde?

2. WIDERSPRUCH SCHWARMINTELLIGENZ VS MANDATSTRÄGER-GEWISSEN

Die wenigen Monate, die z.B. in NRW Piraten im Landtag vertreten sind, haben m.E. gezeigt, dass der Widerspruch zwischen "Schwarmintelligenz" bzw. Meinung der Basis und "Freiheit des Mandatsträgers" schon im Ansatz erkennbar wurde. Meiner Meinung nach wird dieser Widerspruch noch zu einem der wichtigsten Probleme der Piratenpartei werden, sollte sie einmal im Bundestag vertreten sein. Aus diesem Grund wäre eines der wichtigsten Aufgaben des Vorstandes, Vorschläge zu entwickeln, wie der Widerspruch aufgelöst werden kann.

Ein Beispiel ist die Wahl der Listenkandidaten. Da werden die Mitglieder genötigt "Für alle Bewerber zu stimmen, die man nicht unbedingt für ungeeignet hält, damit die Liste bloß voll wird". Damit werden natürlich in erster Linie Bewerber gewählt, die a) bekannt sind und b) sich nichts ernsthaftes haben "zu Schulden" kommen lassen, also gestreamlined nicht auffielen. Das heutige System sorgt dadurch dafür, dass die so genannten "Würstchenwender" an Spitzenpositionen gewählt werden, neuerdings auch "Netzwerker". Weil wie auf einem Landesparteitag erlebt, auch gerne mal  Twitterwerbung prominenter Piraten während der aktuellen Abstimmung für ein Kippen der Meinung bei den Mitgliedern sorgt. (Wieder ein Beweis, dass Mitglieder sind viel leichter zu beeinflussen als Delegierte.) Werden diese Abgeordneten wirklich die "Intelligenz des Schwarms" bzw. den Willen der Basis vertreten? Ich kann es nicht glauben.

Für mich wäre ein glaubhaftes Auswahlverfahren sicher ein Anderes. Z.B. sollten die Bewerberlisten erst eröffnet werden, wenn das Grundsatzprogramm und das Wahlprogramm verabschiedet wurde. Und dann müssen sich die Bewerber für ein Mandat als Vertreter eines Bereichs des Wahlprogramms (oder als Spitzenkandidat für alle Bereiche) vorstellen und können entsprechend gegrillt werden.

Das heutige "Grillen" dagegen ist einfach lächerlich. "Wie lange bist du dabei? Warst du beim Wahlkampf aktiv?" .... Was wir brauchen sind diejenigen, die überzeugend die Ziele des Wahlprogramms und des Grundsatzprogramms vertreten und gleichzeitig nachweisen, dass ihr "Gewissen" als LISTENKANDIDAT entweder in Einklang mit der Basis steht, oder Bereitschaft erzeugt, das Mandat zurück zu geben, wenn das nicht mehr der Fall ist.

Wir haben keine Direktkandidaten, die in ihrem Wahlkreis von den Menschen gewählt wurden, weil sie diese mit der eigenen Persönlichkeit überzeugt haben. Unsere Kandidaten werden gewählt, weil die Wähler sich für das Programm der Piratenpartei entscheiden. Deshalb sollten die Abgeordneten auch jene sein, die dieses Programm im Sinne der Basis am besten vertreten.

3. MITVERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN?

Eine der Schlüsselfragen einer Partei, die in den Bundestag gewählt wurde, ist ob sie Verantwortung für die Regierungsarbeit übernehmen will oder nicht. Während Äußerungen z.B. von BuBernd die Frage eindeutig bejahen, gibt es eine starke Strömung innerhalb der Partei, die der Meinung ist, dass man nur dann Mitverantwortung übernehmen darf, wenn man deutlich mehr Ziele realisieren kann, als "die Vorratsdatenspeicherung verhindern".

D.h. eines der wichtigen Aufgaben des Bundesvorstandes wäre herauszufinden, ob die Parteibasis generell in den ersten vier Jahren überhaupt eine Regierungsbeteiligung wünscht, und wenn ja, unter welchen Bedingungen.

Außerdem muss überlegt werden, ob ein Wahlprogramm, das mit 2/3 Mehrheit verabschiedet wird, überhaupt verhandlungsfähig ist. Und ob nicht eher Positionspapiere (die mit 50%iger Mehrheit beschlossen werden) zumindest teilweise zur Disposition gestellt werden könnten, sollte es einmal zu Koalitionsverhandlungen kommen.

Die wichtigste Frage aber ist und bleibt: Will die Basis der Piratenpartei die Verantwortung für eine Politik übernehmen, die sie nur sehr bedingt beeinflussen kann?

4. ALTERNATIVEN STATT PLATTITÜDEN

Für eine neue Partei, die von sich selbst behauptet, die Politik verändern zu wollen, stellt sich die Frage, welche Art von Politikentwurf durch den Vorstand gefördert werden sollte. Ein "Me-Too" Entwurf, wie z.B. die Einladung von ESM-Protagonisten vollzogen? Oder sollte eine solche Partei nicht doch eher die Meinung der kritischen Zivilgesellschaft vertreten? Ich habe da eine klare Meinung. Und wenn sich der Vorstand nicht sicher ist, sollte er eine entsprechende Umfrage starten. Denn dies ist eine Grundsatzfrage von herausragender Bedeutung.

5. DEDUKTIVES DENKEN

Ich sehe als eine der wichtigsten Aufgaben des Vorstandes die Koordinierung der Politikentwicklung an. Innerhalb der Partei gibt es immer mehr Arbeitsgemeinschaften die intensiv arbeiten und eine Vielzahl von programmatischen Debatten führen. Dabei verzettelt sich die Partei aber oft in Nebenaspekten oder Kleinigkeiten. Die Aufgabe des Vorstandes wäre m.E. den entsprechenden Protagonisten klar zu machen, dass es eine übergeordnete Frage gibt, die zunächst bearbeitet werden sollte, bevor die Details heftig diskutiert werden.

Beispiel: Fahrscheinloser Personennahverkehr. Ein gutes, sinnvolles und unterstützenswertes Projekt. Aber ein Vorstand sollte Energie darauf verwenden den entsprechenden Gremien klar zu machen, dass die Idee des FPNV (Fahrscheinloser Personen-Nahverkehr) Teil eines Gesamt-Verkehrskonzeptes sein muss. Und selbst wenn nicht alle Details dieses Gesamtkonzeptes ausgearbeitet werden, müssen zumindest die Eckpunkte eines solchen Konzeptes festgelegt werden. Und als ein Detailbeispiel kann dann der FPNV genutzt werden. Aber immer muss im gleichen Atemzug das Gesamtkonzept dargestellt werden.

D.h. ein Bundesvorstand sollte sich nicht nur von den AGs informieren lassen, wenn er für einen öffentlichen Auftritt Hilfe benötigt. Sondern er sollte sehr wohl auch koordinierend, kommentierend, gestaltend eingreifen. Und der Vorstand ist derjenige, der mahnt, wenn ein Bereich nicht ausreichend bearbeitet wird. Der Energien zumindest versucht so zu kanalisieren, damit zuerst die Eckpunkte der Oberthemen vereinbart werden, bevor die AGs sich in Detailarbeit selbstverwirklichen. Denn wer sonst sollte über das Gesamtbild in der Partei verfügen?

6. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT

In einer modernen, basisdemokratisch organisierten Partei sollte der Vorstand eigentlich keine Zeit für Öffentlichkeitsarbeit haben. Insbesondere wenn er ehrenamtlich arbeitet. Der Ruf der Medien nach "Köpfen" ist doch nur der verzweifelte Versuch, sich die Arbeit zu erleichtern. Um die Partei nach Außen zu vertreten und die Öffentlichkeitsarbeit zu realisieren, sollte ein vollamtlicher, bezahlter professioneller Presse-Sprecher ohne politische Ambitionen diskutiert werden. Dieser hätte nichts anderes zu tun als sich über den Stand der Diskussion innerhalb der Partei zu informieren und diesen Stand dann an die Medien weiter zu geben. Damit würde auch die immer wieder aufkommende Frage nach der persönlichen Meinung entfallen. Denn schließlich ist er ein Dienstleistungsorgan, nicht Teil der politischen Willensbildung. Das würde aber bedeuten, dass die Mitglieder des Bundesvorstandes einen Teil ihrer "Würstchenwender"-Vorteile aufgeben müssten. Denn während die Teilnehmer des Vorstandes viel intensiver mit den Arbeitsgemeinschaften zusammen arbeiten, und dafür ihre Zeit nutzen, ist es Aufgabe des Pressesprechers, auf Talk-Shows, in Diskussionen usw. die Position der Partei zu erklären. Wenn Sitzungen mit Arbeitsgemeinschaften mit Repräsentationsterminen kollidieren: Grußworte an Mitgliederversammlungen können über Skype erfolgen, die müssen nicht persönlich überbracht werden. Letzteres nützt lediglich dem persönlichen Netzwerken, aber nicht der programmatischen Parteiarbeit.

Die Öffentlichkeit will aber Köpfe? Was soll das? Machen wir Politik für die Medien oder um Deutschland zu verändern. Dazu gehört es eben genau zuerst die Politik zu entwickeln.

FAZIT

Wären diese 6 Beispiele nicht eher Kritik- oder Diskussionspunkte für eine Basis die Politik gestalten will? Statt sich über Veranstaltungsorganisation, Spesenabrechnungen, Einzelentscheidungen, in Lobbyistenfallen getappte Autoren-Vorstände zu empören?

VISION

Ich wünsche mir einen Vorstand, der
  • Nicht Knecht der Basis, sondern Mentor der Basis ist.
  • Nicht Öffentlichkeitsarbeit sondern programmatische Arbeit unterstützt.
  • Nicht wegen der Entscheidung für einen Parteitagsort, sondern wegen Initiativen zur Entwicklung INNOVATIVER programmatischer Eckpunkte der Partei kritisiert wird.
  • Nicht von Veranstaltung zu Veranstaltung fährt, sondern über Mumble in den AGs aktiv mit arbeitet (und sich virtuell zu Veranstaltungen zuschaltet).
  • Nicht als Parteiknecht brav gedient hat, sondern eigene politische Ideen und Gedanken veröffentlicht.
  • Nicht LQFB und Vorratsdatenspeicherung (Beispiele) als wichtigste Kernthemen der Piraten nennt, sondern ein faires und solidarisches Wirtschaftssystem, einen demokratischen Staat der wichtiger als die Märkte ist, ethische Außenpolitik mit Fokus auf Frieden schaffen und Kooperationen, und Innenpolitik mit Beteiligung, Integration und Toleranz.
Wenn dann der "Stimmbruch", die Pubertät überwunden ist, die programmatische Richtung geklärt, und auch Nicht-Nerds in die Partei integriert sind, wenn die sich nicht in der Partei wieder findenden Mitglieder sich wieder abgewandt haben, dann, dann könnten sich die Aufgaben des Vorstandes verändern. Aber vorsichtig, von der Basis getragen.

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