Meine Rezension war bei Rubikon erschienen, wurde dann aber nach wenigen Tagen wieder vom Netz genommen, weil der Artikel nicht den handwerklichen Anforderungen entsprach. Leider habe ich weder Publizistik noch Germanistik studiert, und so führten auch Änderungen nicht zu einer ausreichenden Qualität. Ein vollkommene Veränderung wäre aber nicht mehr mein Artikel, daher erscheint er nun hier in meinem Blog.
Ich
hätte das Buch vermutlich nie gelesen, wäre es nicht durch den Spiegel zensiert
worden. Als das Buch dann endlich mit der Post eintraf, war ich jedoch zunächst
nicht durch den Inhalt überrascht. Beim Auspacken erinnerte es mich wegen
seiner Kleinheit zunächst an eines jener Reclamheftchen, nur dass das Buch ein
Hardcover hatte. Aber schon nach den ersten Seiten war ich vor allem von der
Andersartigkeit der inhaltlichen Herangehensweise dieses Buches fasziniert. Der
Autor versuchte nicht, seine Ausführungen mit Zitaten Anderer zu belegen. Er
versuchte auch nicht, Aussagen argumentativ zu untermauern, zu beweisen oder zu
begründen. Im Grunde schien er sich an sich selbst zu wenden. Es war wie ein
Selbstgespräch, eine kommunikative Form, bei der naturgemäß wenig Wert darauf
gelegt zu werden braucht, den Adressaten zu überzeugen. Als Leser war ich also
von Beginn an gefordert, Sieferles Aussagen mit eigenen Erfahrungen, Eindrücken
und Kenntnissen abzugleichen. Und dabei erschienen schon die ersten Seiten des
Buches als Aufschrei des Protestes gegen die Selbstgefälligkeit der so
genannten Elite.
Sieferle
beginnt mit einer Kritik der historischen „Rechtsprechung“, d.h. der Bewertung
von faktisch nicht wiederholbaren Verbrechen, lässt sich dann kritisch über die
heutige „Elite“ aus, was man fast als Trauer um aristokratische bzw.
monarchistische Führung auslegen könnte, lässt sich besonders über seiner
Meinung nach heuchlerische Moralbegriffe aus. Sein Text zum Modernismus mündet
in eine Kritik des Konsums. Sieferle greift dann den Begriff der Erbschuld auf,
um ihr dann die Eigenschaften einer „Religion“ zuzuweisen, und wie man sich andererseits
durch „Antifaschismus“ moralisch davon abgrenzen kann, was mich an Ablassbriefe
der Katholiken im Mittelalter denken ließ. Doch nun zu den Einzelheiten. Im
ersten Kapitel übt Sieferle zunächst grundsätzliche Kritik an der Geschichtsschreibung.
„Wenn Deutschland zu den fortgeschrittensten,
zivilisiertesten, kultiviertesten Ländern gehörte, so könnte „Auschwitz“
bedeuten, dass der humane „Fortschritt“ der Moderne jederzeit in sein Gegenteil
umschlagen. So hätte jedenfalls eine skeptisch-pessimistische Lehre aus der
Vergangenheit lauten können. Die übliche Vergangenheitsbewältigung ging jedoch
ganz andere Wege“ (Seite 7,8)
Implizit
schimmert hier sein Pessimismus durch. Angesichts der ungeheuren Grausamkeiten
in Hiroshima und Nagasaki und den unendlichen Kriegen nach Beendigung des 2.
Weltkrieges, erkennt man Sieferle als einen Menschen, der nicht die
Ungeheuerlichkeit von Auschwitz leugnet oder in Frage stellt, sondern die eben
NICHT daraus gezogene Lehre, dass der „Fortschritt“ keine Versicherung ist,
dass Ähnliches nicht wieder passiert.
Dann
aber folgt, am Beispiel der Aburteilung von Politikern der ehemaligen DDR, eine
methodenkritische Reflexion:
„Der
gestürzte totalitäre Politiker dagegen, mehr aber noch sein Handlanger, findet
sich in einer Welt wieder, in der alles, an das er einst geglaubt hat, in
Trümmern liegt. Vor ihm braucht niemand mehr geschützt zu werden, nicht einmal
er selbst. Hier könnte man sich daher Milde und Nachsicht leisten. Wenn dies
nicht geschieht, wenn er gar mit einer schärferen Behandlung zu rechnen hat,
die mit Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen oder mit
Verlängerung von Verjährungsfristen sogar hart an die Grenzen des Rechtsstaats geht, wo wird gerade darin
deutlich, wie untauglich eine Reduktion der Geschichte auf die Kategorien des
Strafrechts ist. (…) Das große Spiel wird anhand von Regeln beurteilt, die nur
für das kleine Spiel entworfen worden sind.“ (Seite
17)
Sieferle
will klar machen, dass nach seiner Meinung Verbrechen, die aus strukturellen
Gründen nicht wiederholbar sind, anders beurteilt werden müssten, als solche,
vor der man die Gesellschaft schützen muss. Wenn die Gefahr nicht besteht, dass
eine Tat wiederholt wird, müsste seiner Meinung nach die Tat geringer bestraft
werden.
Er
übersieht dabei, dass es natürlich nicht nur um Prävention und Resozialisierung
geht, sondern um Vergeltung und Genugtuung für Opfer. Bei Bestrafung geht es auch darum, den Opfern
Genugtuung zu verschaffen. Dieser Gesichtspunkt schwächt die Begründung von
Sieferles These ab, dass Verbrechen oft selbstgeißlerisch als solche der
Gesellschaft und nicht des Individuums angesehen werden. Da politische
Verbrechen größere Opfer mit sich bringen, muss durch das Urteil demzufolge
auch mehr „Genugtuung“ erzeugt werden. Andererseits muss man feststellen, dass
zu der Annahme der fehlenden Verantwortung des Einzelnen für seine Taten
durchaus eine Tendenz besteht, die sich in der Rechtsprechung der letzten Jahre
verstärkt manifestiert hat und bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung
auf Unverständnis stößt.
Kritik
an der Elite
Sieferle
erklärt die seiner Meinung nach bestehenden Unterschiede in den elitären
Strukturen der herrschenden Klassen in verschiedenen Ländern und Kulturen.
„In
kultureller Hinsicht ist Deutschland daher ein ungeheuer egalitäres Land, in
dem es zwar Arme und Reiche, Mächtige und Ohnmächtige gibt, nicht aber eine
herrschende Klasse, die diesen Namen verdient.“ (Seite
24)
Er
glaubt also, dass es gar keine „herrschende Klasse“, sondern polyarchische
Strukturen mit unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten gibt.
An
dieser Stelle würde ich heftig widersprechen. Aus meiner Sicht gibt es in
Deutschland eine herrschende Klasse, bestehend aus einem Establishment, in das
man nicht durch Geburt, sondern durch gleiche Denkstrukturen, erlernt in
Schule, Universitäten, Clubs, Freundeskreisen, Jobs und durch entsprechende
Taten aufgenommen wird.
Aber
zunächst lese ich weiter, wie er sich über den „Sozialdemokratismus“ (Begriffe
in Anführungszeichen zitieren Sieferles Ausdrücke), also die Angleichung des
durchschnittlichen Lebensstandards in allen Regionen des Landes, äußert.
„Wie
neidisch schaut man von Liverpool nach London, von Buffalo nach Dallas? Die
‚Angleichung der Lebensverhältnisse‘ scheint ein deutscher (oder ein
nordwesteuropäischer) Traum zu sein, der hierzulande in einer Intensität gelebt
wird, die angesichts der globalen Wirklichkeit hin und wieder Kopfschütteln
erzeugen könnte (…) Bisher glauben sie noch [die Deutschen], es seien nur
Nivellierungen nach oben möglich; vielleicht wird sie eine Wirklichkeit, die
nur noch Nivellierungen nach unten gestattet, schließlich eines Besseren
belehren?“
(Seite 28)
Sieferle
kritisiert den Versuch der Politik, innerhalb Deutschlands allen Regionen
gleiche Teilhabe am Wohlstand zukommen zu lassen. Eine Politik, die natürlich
auch in anderen Ländern zu beobachten ist, und die nichts mit „Nivellierung“ zu
tun hat, die eine unfaire Verteilung bedingen würde. In diesen Absatz könnte
man Sieferle als Verfechter eines Sozialdarwinismus sehen, weil er die
Solidarität innerhalb einer Gesellschaft, mit dem Versuch, allen Mitgliedern
der Gemeinschaft ein Mindestmaß an Teilhabe zukommen zu lassen, als
„Sozialdemokratisierung“ ablehnt.
Im
nächsten Unterkapitel „Moralische Arithmetik“ schreibt Sieferle dann über zwei
Apfeldiebe, aber nach wenigen Sätzen ahnt man, dass hier von der Schuld
Deutschlands und der anderer Länder die Rede ist.
„Fritz
hat dem Iwan zehn Äpfel gestohlen, Iwan dem Fritz aber nur vier Äpfel. Nun kommt
ein Aufrechner und sagt: ‚Nicht nur Fritz ist ein Dieb, sondern auch Iwan. Man
müsste eigentlich von den zehn Äpfeln, die Fritz gestohlen hat, die vier von
Iwan gestohlenen abziehen‘“
(Seite 33)
Zwei
Diebe bestehlen sich gegenseitig, und die Schuld des größeren Diebes soll durch
ein Verrechnen der gestohlenen Werte verringert werden. Er beschreibt dann, wieso
gen. Moralisten argumentieren, und hier wird deutlich, was und wen er meint:
„Aber
der Moralist ist auch hier um keine Antwort verlegen: ‚Das Verbrechen des Fritz
ist unendlich groß. Von einer unendlichen Größe kann man aber jeden beliebigen
Betrag abziehen, und sie bleibt doch unendlich. Daher wird die Schuld des Iwan
tatsächlich durch Verschweigen getilgt, während die Schuld Fritzens für alle
Zeiten vollständig erhalten bleibt.‘“
(Seite 34)
Er
lässt den Leser dann selbst entscheiden, ob
er der Argumentation eines neutralen Beobachters folgt, der in den Regeln
der „moralischen Arithmetik“ eine merkwürdige Logik erkennt, oder den
Argumentationen des „Moralisten“, des Vertreters der Meinung, dass die größere
Schuld, da unendlich, für immer unendlich bleiben muss. Mancher Leser mag hier
in einen inneren Zwiespalt geraten. Auch ich mochte mit dem Buch zunächst
pausieren, weil doch der Überlegung des neutralen Beobachters mehr Moral
innewohnt als der Argumentation des „Moralisten“. Tatsächlich aber wäre aus
ethisch moralischer Sicht eine Betrachtung zu fordern, bei der sowohl Fritz für
den Diebstahl von 10 Äpfeln, als auch Iwan für den Diebstahl von 4 Äpfeln, wenn
es denn ein Diebstahl war, und keine Rückholung, entsprechend den entstandenen
Schäden bestraft werden müssten.
Im
zweiten Kapitel, in dem Sieferle über die Paradoxien der Zeit schreibt,
enthüllt er dann die Brillanz seiner Gedanken, die wie ein Gewitter über den
Leser herziehen, die ihm Angst machen, aber auch Lichtblicke ermöglichen, in
denen er emotional Empfundenes in Worte gefasst wiederfindet, die er selbst
niemals gesprochen oder geschrieben hätte. Für mich besonders erhellend war der
Diskurs über Wissenschaft und Avantgarde.
„Die
Funktion der Geisteswissenschaften besteht also darin, die Imagination an die
Kette der Tradition zu legen. Durch methodische Kritik wird die intellektuelle
Innovation auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, werden Sprengsätze
entschärft und wird alles auf das rechte Maß gestutzt.“
(Seite 40)
Sieferle
kritisiert, dass Geisteswissenschaften „an die Kette gelegt wurden“, was nach
den Bologna-Reformen in meinen Augen eine nachvollziehbare Ansicht ist. Ist
doch eine deutliche Ent-Intellektualisierung der universitären Bildung zu
beobachten. Produziert werden für den Arbeits- oder gesellschaftlichen Prozess
optimierte Schulkinder, die zum größten Teil versuchen stromliniengerecht durch
den verschulten Universitätsprozess zu gleiten.
Im
nächsten Unterkapitel erklärt er, wie im Westen „System“ die „Politik“
ablöste. Politik war etwas, das „Programme,
Werte und Ziele“ hatte. „Gefordert
sind Tugenden und Einsätze, die sich auf ein übergeordnetes Ganzes richten“.
Und was spätestens seit den auf Lügen basierenden Kriegen gegen Jugoslawien,
Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien von den Menschen empfunden wurde, fasste der
Autor in folgende Worte:
„Ultima
Ratio der Politik ist der Krieg: die Bereitschaft zur Selbsthingabe des
Individuums für eine höhere Sache, für eine Gemeinschaft, zum Opfertod“
(Seite 40)
Krieg
diente nach diesen Worten also früher einem vermeintlich höheren Ziel. Aber
nach Sieferle wird im Westen Politik heute durch das „System“, ersetzt, das er definiert als
„Eigenschaft
neu heraufziehender Ordnungen von höherer Komplexität, welche die Politik
sukzessive verdrängen. Systeme organisieren sich ohne Werte, Ziele und
Programme. Ihre einzige Maxime lautet: Freiheit und Emanzipation für die
Individuen, Tugend und Opfer sind Anachronismen, Kriege bloße
Konfliktkatastrophen…“ (Seite 41)
Im
Westen wird Politik, so Sieferle, werden also Tugenden, Einsätze die sich auf
ein übergeordnetes Ganzes richten, als Anachronismus gesehen, der sich in
anderen Ländern noch starrsinnig hält.
Allerdings
wird der Allgemeinheit doch auch heute noch vorgegaukelt, dass es bei den
Kriegen, seien es Wirtschaftskriege, Cyber-Wars oder heiße Kriege, immer um
hehre Ziele wie Freiheit, Demokratie und Schutz von angeblich oder tatsächlich
gequälten Individuen geht. Was sonst sind die gesellschaftliche Akzeptanz der
größten Kriegsverbrechen des Jahrtausends, des Angriffskriegs gegen den Irak,
oder die Invasion Afghanistans, die Bombardierung Libyens oder die
Unterstützung von Terrorismus in Syrien?
Der
Autor stellt sodann fest, dass seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert die
Führer der Arbeiterbewegung fast alle „zugleich
Theoretiker“ waren, die „Schritt für
Schritt ihre Absichten literarisch reflektieren (und intellektuellen Methoden
gegenüber offen sind)“. In dieser Zeit gehörte es zum guten Ruf eines
Potentaten, auch gleichzeitig ein großer Theoretiker zu sein, egal wie
zweifelhaft seine Elaborate waren. In
der „nachpolitischen“ Zeit hätte
dieser Spuk aufgehört. Bei den Büchern heutiger Politiker handele es sich „durchweg um den dritten Aufguss
breitgewalzter Akademiethemen“. Die
Politik demonstriere auch hierdurch, dass sie „keinen Anspruch auf ‚Programmatik‘ mehr erheben kann“.
„Die
noch immer fleißig produzierten Programme werden auf das Niveau des
Kultur-Geschwätzes verwiesen, wo sie nichts mehr ‚bewegen‘.“ (Seite
44)
Damit
kritisiert er die Verflachung und Beliebigkeit von Programmen, die im Zweifel
eine Interpretation in alle Richtungen offen lassen, oder leicht einem
„Koalitionszwang“ oder politischem Pragmatismus geopfert werden können.
Wundert
man sich nun, dass unser Establishment dieses Buch ablehnt, selbst wenn es hier
enden würde? Wie hätte man aber die endlose Abfolge von Talk-Shows mit immer
gleichen Gästen besser beschreiben können? Nur kommt nun eine Schlussfolgerung,
die ich nicht teile: „Auch dies ist eine
wohltätige Errungenschaft der Demokratie“. Erstens lässt er den Begriff
„Demokratie“ unerklärt stehen, zweitens halte ich es nicht für eine wohltätige,
sondern zweifelhafte Errungenschaft, wenn politische Auseinandersetzung zu
einem in Sekunden bemessenen „Gladiatorenkampf“ verkommen, mit dem Ziel der
Unterhaltung statt Aufklärung.
MODERNISIERUNG
Dankenswerterweise
nimmt sich Sieferle dann der populären Meinung der Modernisierungstheorie an,
nach der technische Rationalität, industrielle Entwicklung und
liberal-demokratische Prinzipien eine notwendige Einheit bilden würden. Er stellt dieser These die Entwicklung in
Asien, speziell in Japan gegenüber, die eine „Kombination von technisch-industrieller Hypermoderne mit nationaler
Gemeinwohlorientierung und antiemanzipatorischem Kollektivismus“ darstellt.
Er sagt daher eine evolutionäre Konstellation voraus:
„Auf
der einen Seite der Westen (jetzt einschließlich Deutschlands), der über keine
normativen Reserven im Sinne der Gemeinwohlorientierung mehr verfügt, sondern
das Programm des atomistisch-individualistischen Universalismus bis in die
letzte Konsequenz hinein verfolgt und auch verfolgen muss. (…) Auf der anderen
Seite der ‚Osten‘, der auf der Basis weitgehend intakter Familienstrukturen und
Gruppenloyalitäten gleichwohl technische und marktwirtschaftlich-ökonomische
Rationalität entfaltet.“ (Seite
45)
Während
der „Osten“ also noch Gruppenloyalitäten aufweist, wie er meint, wäre der
Westen vollständig individualisiert, wären wir zum globalisierten Konsumenten
mutiert, würde man den Gedanken weiter spinnen. Allerdings löst er hier nicht
den Widerspruch zu seiner Kritik des „Sozialdemokratismus“ auf, der nach seiner
Definition eigentlich auch eine Art von Gruppenloyalität darstellt.
Mit
über 10 Jahren Asienerfahrung und einer asiatischen Ehefrau gebe ich Sieferle teilweise
Recht. Aber er fokussiert sich zu sehr, was bei 104 Seiten auch kein Wunder
ist, und vergisst die Nachteile der asiatischen ‚Gemeinwohlorientierung‘.
Vielleicht mit Ausnahme von Vietnam und evtl. China geht sie einher mit dem
unbedingten Glauben an eine Hierarchie. Dies wiederum hemmt Innovation und
Weiterentwicklung.
Sieferle
sieht noch keinen Ausgang im Wettstreit zwischen den beiden Systemen, aber er
ist sicher, dass „Deutschland in ihm
keine prägende Rolle mehr spielen wird“. Dem muss man zweifellos zustimmen
und feststellen, dass antideutsche Strömungen es geschafft haben, Deutschland
zu einem bedingungslosen Vasallen des Welthegemons zu machen, der sich in Form
des US-Establishments manifestiert.
Auf
Seite 47 erklärt der Autor, warum das nicht erwähnte Sprichwort „Die Geschichte
wiederholt sich nicht“ zutreffend ist, denn „sollte es [...] eine Wiederkehr des Gleichen geben, so wäre sie von
einem einmaligen Geschehen nicht zu unterscheiden“. Er stellt am Schluss
fest, dass das Problem der Wiederkehr des Gleichen sich zu einem bloßen
Gedankenspiel auflöst.
Dann
beginnt er seine grundlegende Kritik der derzeitigen westlichen Lebensart.
Unter der Überschrift „Tierliebe“
geht es aber eigentlich um Hass – Hass auf Missratene, auf Andere. Darauf
folgen Sieferles Auslassungen über die sensualistische Strategie. Hier arbeitet
er heraus, wie in der Antike die Herrschaft des Geistes über den Körper später
als „Lustfeindlichkeit“, die eigentlich auch „Schmerzfeindlichkeit“ ist,
verleumdet wurde. Er weist darauf hin, wie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert
das Prinzip „Freiheit wird gewonnen, wenn
man sich der Zwänge der Natur entledigt“ entwertet, ja in sein Gegenteil verkehrt
wurde.
„Diese
Strategie der Sinnlichkeit im Namen der Jugend, der Gesundheit, der Fitneß
verspricht ein Glück hic et nunc…“
(Seite 51)
Mit
dem Zitat kritisiert er Jugendwahn und Fitnesswelle, ohne ausreichend zu
berücksichtigen, dass es eigentlich nur Zeiterscheinungen, Wellen sind, keine
grundsätzlichen Lebens- oder Sinnziele, dass die Veränderungen, die durch
Digitalisierung und Internet zu beobachten sind, wesentlich gravierendere
Auswirkungen haben werden. Aber wer möchte ihm da unter dem Eindruck von
Talentwettbewerben, Next-Top-Model-Wettbewerben, Narzissmuswettbewerben im
Dschungel oder Container, ständigen Party-Ankündigungen in Radiosendern,
Fitnesswellen und Schlankheitswahn, wer möchte ihm da widersprechen?
Schließlich
bedauert der Autor das Verschwinden der „Kulturlandschaft“,
also einer von Individualität geprägten, dem Menschen untertan gemachten Welt
zur Produktion der für ihn überlebensnotwendigen Mittel. Das Verschwinden der
Kulturlandschaft endet nach Sieferle schließlich im Verschwinden des „Menschen“.
„Der
„Mensch“ im alten Sinn ist bereits verschwunden, und er hat die Räume
mitgenommen, in denen er gelebt hatte und die auf seine individuell-familiären
Dimensionen zugeschnitten waren.“ (Seite
54).
Aus
einer Kulturlandschaft wurden also seiner Meinung nach beliebig austauschbare
landwirtschaftliche Industrieflächen. Die Aussage kumuliert dann in einer fundamentalen Kritik der heutigen
Konsumwelt:
„Seine
‚Erfahrungen‘ [die des entindividualisierten Menschen] sind so beliebig und in
Massen produziert wie die Waren, mit denen er sich umgibt. Er hängt in einem
umfassenden Netz, dessen Zuckungen er weiterleitet. Sich mit ihm zu beschäftigen
ist so aufregend wie die Betrachtung einer amerikanischen Fernsehserie und so
überraschend wie der Geschmack eines EG-Apfels.“
(Seite 55)
Das
Zitat fasst die Globalisierungskritik von Vielen in Worte, kritisiert
globalisierte industrialisierte Gleichmacherei, die späten, ins extreme
gesteigerte Folgen der Industrialisierung des 20. Jahrhunderts.
Was
ich an dieser Stelle vermisse, ist ein Eingehen auf die Widersprüche zwischen
Individualisierung, Egoismus als Lebensziel, der Erosion historischer Bindungen
einerseits und konsumtiver Entindividualisierung andererseits. Allerdings beschreibt er den Verlust der
Bedeutung der Familie als Beispiel, als Vorbote des Verlustes jedweder
Existenz. Demnach wäre „der reale
Untergang der Welt, (…) nur noch eine exoterische Frage.“
Während
Nietzsche vom Volk als Schafherde sprach, will der Autor nur noch das Bild
eines Hühnervolkes gelten lassen, bei dem die rasche Bereitschaft zur
Furchtsamkeit prägender Eindruck ist. Worauf er Kunst als Akt charismatischer
Herrschaftsausübung definiert. Was historisch zutreffen mag, sieht man die Rolle
der Kunst in der Vergangenheit, was aber m.E. in Hinsicht auf Gegenwart und
Zukunft hinterfragt werden muss.
MYTHOS
VB
Der vielleicht wichtigste Vorwurf, den ich als Reaktion auf
meine Rezension hörte, lautete, dass ich zu wenig auf den Vorwurf eingegangen
wäre, mit „Mythos Ausschwitz“ hätte der Autor Sieferle den Holocaust geleugnet.
Der Begriff „Mythos“ wird je nach Nachschlagewerk
unterschiedlich interpretiert. Je nachdem ob man Duden, Wikipedia oder die
Encyclopedia Britannica konsultiert, kommen unterschiedliche Dinge dabei
heraus. Sieferle hat den Begriff aber selbst definiert. Und ich muss ihm
zubilligen, das tun zu dürfen. Und nachdem ich seine Definition des „Mythos“
gelesen hatte, war ich nicht darauf gekommen, dass er den Holocaust leugnen
wollte.
"Der Nationalsozialismus, genauer Auschwitz, ist zum letzten
Mythos einer durch und durch rationalisierten Welt geworden. Ein Mythos ist
eine Wahrheit, die jenseits der Diskussion steht. Er braucht sich nicht zu
rechtfertigen, im Gegenteil: Bereits die Spur des Zweifels, die in der
Relativierung liegt, bedeutet einen ernsten Verstoß gegen das in schützende
Tabu. Hat man nicht gar die "Auschwitzlüge" als eine Art
Gotteslästerung mit Strafe bedroht? Steht hinter dem Pochen auf die
"Unvergleichlichkeit" nicht die alte Frucht jeder offenbarten
Wahrheit, dass sie verloren ist, sobald sie sich auf das aufklärerische
Geschäft des historischen Vergleichs und der Rechtfertigung einlässt?
"Auschwitz ist zum Inbegriff einer singulären und untilgbaren Schuld
geworden." (Seite 63)
Mit keinem Wort leugnet er die Ungeheuerlichkeit der
Verbrechen von Auschwitz, sondern schon im zweiten Satz sagt er ausdrücklich,
das nach seiner Definition dieser Mythos eine Wahrheit ist, die jenseits der
Diskussion steht. Da Sieferle außerdem nicht im Konjunktiv, sondern Indikativ
schrieb, ist damit m.E. eindeutig zu erkennen, dass er Auschwitz NICHT leugnet.
Er beschreibt lediglich wie er "Auschwitz" einordnet. Anschließend
lässt er sich über "Schuld" aus, was aber ein anderes Thema als das
Leugnen von Auschwitz darstellt, nämlich eine intellektuelle Diskussion des
Schuldbegriffes ist. Schuld, Buße, Gnade und Liebe werden von ihm in
Zusammenhang gebracht.
War
das Buch bis zu diesem Kapitel die Klage eines alt gewordenen Intellektuellen
über die geistige und kulturelle Verflachung und Gleichschaltung der
Gesellschaft, begibt er sich nun auf den sensiblen Bereich der deutschen
„Erbsünde“. Zu Recht stellt er fest, dass man selbst Götter kritisieren oder
beleidigen darf, dass Nacktheit kein Tabu ist, „Kritik an Juden dagegen muss auf sorgfältigste Weise in die
Versicherung eingepackt werden, es handle sich dabei keineswegs um
Antisemitismus“. ( …) ‚Auschwitz‘ ist
zum Inbegriff einer singulären und untilgbaren Schuld geworden.“ (Seiten
63/64)
Sieferle
definiert dann den Begriff Schuld und die reinigenden Rituale. Er beschreibt die
Kollektivschuld neben der individuellen Schuld des Verbrechers. Diese soll
nicht den Täter eliminieren. „Es handelt
sich um eine Schuld von metaphysischen Dimensionen, die nur verständlich wird,
wenn man sie in das Licht der älteren Figur der Erbsünde stellt.“ Schuld,
Buße, Gnade und Liebe sind demnach untrennbar verbunden. Allerdings stellt er
fest, dass aus der Kollektivschuld der Deutschen, die auf Auschwitz folgte,
zwar der Aufruf zu permanenter Buße folgte, jedoch das Element der Gnade und
Liebe vollständig fehlte. Denn es handelte sich um eine säkulare Form der
Erbsünde. Der Deutsche ähnelt daher seiner Meinung nach nicht einem aus dem
Paradies vertriebenen erbsündigen Menschen, sondern dem Teufel, dessen Schuld
niemals vergeben wird und der für ewig in der Finsternis zu bleiben verurteilt
ist. Mit anderen Worten: Der Teufel vs. Gott, Yin und Yang, sie benötigen sich
gegenseitig.
War
bis Auschwitz „der Jude“ mit der Erbschuld der Nichtanerkennung durch Jesus
Christus als Erlöser aus christlicher Sicht belegt, wurde er ersetzt durch den
säkularisierten Teufel einer aufgeklärten Gegenwart, den Deutschen, oder
zumindest den Nazi.
„Die
Welt braucht offenbar Juden oder Deutsche, um sich ihrer moralischen Qualitäten
sicher zu sein. Allerdings gibt es in einer Hinsicht einen gewaltigen
Unterschied: Die Juden teilten selbst nicht die Bewertung, die ihnen seitens
der Christenheit widerfuhr, während die Deutschen die ersten sind, ihre
unauflösliche Schuld zuzugeben - wenn dies auch gewöhnlich in der Weise
geschieht, dass derjenige, welcher von
der Schuld oder ‚Verantwortung‘ der Deutschen spricht, sich selbst zugleich von
dieser reinigt, da die Anerkennung der Schuld immer nur mit Blick auf die Verstockten,
d.h. die anderen ausgesprochen wird. Die Schuld Adams wurde heilsgeschichtlich
vom Opfertod Christi aufgehoben. Die Schuld der Juden an der Kreuzigung des
Messias wurde von diesen selbst nicht anerkannt. Die Deutschen, die ihre
gnadenlose Schuld anerkennen, müssen dagegen von der Bildfläche der realen
Geschichte verschwinden, müssen zum immerwährenden Mythos werden, um ihre
Schuld zu sühnen. Der ewige Nazi wird als Wiedergänger seiner Verbrechen noch
lange die Trivialmythologie einer postreligiösen Welt zieren. Die Erde aber
wird von diesem Schandfleck erst dann gereinigt werden, wenn die Deutschen
vollständig verschwunden, d.h. zu abstrakten ‚Menschen‘ geworden sind. Aber
vielleicht braucht die Welt dann andere Juden.“
(Seite 69)
Sieferle
kritisiert in diesem Absatz die Tatsache, dass die Verbrechen Nazi-Deutschlands
ins quasi-religiöse gesteigert werden. Da haben wir den Salat. Sofort werden
alle Kritiker aufschreien und von einer versuchten Relativierung der Verbrechen
Deutschlands reden, von einer Umdefinition des Täters zum Opfer. Es gibt
offensichtlich für jedes andere noch so große Verbrechen die unausgesprochene
Erlaubnis, intellektuell neutralisierend darüber zu diskutieren. Nur eben nicht
über die deutsche „Erbschuld“. Aber gerade durch die Einhelligkeit des
Aufschreis werden die folgenden Ausführungen des Autors bestätigt. Die Art und
Weise, wie in Deutschland Vergangenheitsbewältigung zelebriert wird, „durch das erste Gebot: Du sollt keinen
Holocaust neben mir haben“, trägt nach seiner Meinung veritable Züge einer
Staatsreligion.
„Die
Größe der Schuld seiner Erzväter hat es [das deutsche Volk] für immer aus dem
normalen Gang der Geschichte herausgehoben. In dieser Schuldhaftigkeit ist es
einzig unter den Völkern, da seine Verbrechen von einzigartiger Größe waren.“
(Seite 71)
Sieferle
beschreibt, dass, da die Verbrechen Deutschlands von einzigartiger Größe waren,
eine Erbschuld entstand, die das deutsche Volk für immer stigmatisierte.
Am
Beispiel des Rücktritts von Philipp Jenniger beschreibt er, was passiert, wenn
man der Ketzerei verdächtigt wird bzw. wenn die Zuhörer intellektuell nicht in
der Lage sind, einer akademischen Vorlesung zu folgen, möglicherweise weil sie
eine der üblichen Predigten erwarteten. Es dürfte ihm klar gewesen sein, dass
ihm das gleiche Schicksal widerfahren wird. Sieferle geht so weit zu
hinterfragen, ob es überhaupt „Leugner,
Verdränger, Relativierer, also diejenigen, die (in heilloser Tradition zu einem
Verfahren, das einst ‚Aufklärung‘ hieß) an dem Mythos kratzen...“ gebe. Was
ihn dazu bewogen hat, zu fragen, ob diese nicht nur Erfindung der Orthodoxie
sein könnten, bleibt jedoch im Dunkeln.
Sieferle
greift die Absurdität einer „Erbschuld“ auf, die dem Verbrechervolk gegenüber
anderen Völkern eine Unvergesslichkeit zukommen lässt, eine der profanen
Geschichte entrückte Unvergänglichkeit.
„Die
Christenheit hatte ihrem ermordeten Gott in jeder Stadt Kathedralen gebaut,
welche noch heute, lange nachdem dieser Glaube unverständlich geworden ist, das
Staunen derer erregt, die sie als Touristen begaffen. Die Juden, denen ihr Gott
selbst die Ewigkeit zugesichert hat, bauen heute ihren ermordeten Volksgenossen
in aller Welt Gedenkstätten, in denen nicht nur den Opfern die Kraft der moralischen
Überlegenheit, sondern auch den Tätern und ihren Symbolen die Kraft ewiger
Verworfenheit zugeschrieben wird. Nachdem das reale Deutschland untergegangen
ist, bleibt es als Mythos dauerhaft erhalten. Die Fellachen aber, die heute in
den Ruinen seiner Städte ihren Geschäften nachgehen, konnten gerade dadurch in
die Geschichtslosigkeit versetzt werden, welche Basis ihres pragmatischen
Erfolgs ist. Hier zahlt sich die Abgebrühtheit aus, welche die permanente
Konfrontation mit einem Mythos erzeugt: Die Menschen, welche in Deutschland
leben, haben sich ebenso daran gewöhnt, mit dem Antigermanismus fertigzuwerden,
wie die Juden lernen mussten, mit dem Antisemitismus zurechtzukommen.“
(Seite 77)
Hier wird endgültig Sieferle als Kulturpessimist mit
aristokratischem Anspruch deutlich. Er spielt auf die „Fellachen“ vom
brillanten Oswald Spengler an, vorenthält allerdings dem „normalen“ Leser den
Sinn der Erwähnung. Im „Untergang
des Abendlandes“ schreibt dieser über sich selbst auflösende Zivilisationen:
Auf dieser Stufe beginnt in allen Zivilisationen das mehrhundertjährige
Stadium einer entsetzlichen Entvölkerung. Die ganze Pyramide des kulturfähigen
Menschentums verschwindet. Sie wird von der Spitze herab abgebaut, zuerst die
Weltstädte, dann die Provinzstädte, endlich das Land, das durch die über alles
Maß anwachsende Landflucht seiner besten Bevölkerung eine Zeitlang das
Leerwerden der Städte verzögert. Nur das primitive Blut bleibt zuletzt übrig,
aber seiner starken und zukunftreichen Elemente beraubt. Es entsteht der Typus des Fellachen.
Deshalb finden wir auch in diesen Zivilisationen schon früh die
verödeten Provinzstädte und am Ausgang der Entwicklung die leerstehenden
Riesenstädte, in deren Steinmassen eine kleine Fellachenbevölkerung nicht
anders haust als die Menschen der Steinzeit in Höhlen und Pfahlbauten.
Bis
hierhin kann man Sieferle vorwerfen, christlich begründete Mythen als Ursprung
des Antisemitismus und industrielle Massenmorde des Nazi-Regimes gleichwertig
nebeneinander gestellt zu haben. Jedoch geht es ihm ja nicht um die Taten
selbst, sondern um ihre Folgen. Also betrachten wir, was er als Lehre aus
Auschwitz zieht:
„Die
einzige reale Hinterlassenschaft der Aufklärung ist die Technik – und diese
geht daran, sich ihre Naturbasis zu entziehen. Die Geschichte der Projekte des
18. und 19. Jahrhunderts ist dann die eines totalen Scheiterns, das im 20.
Jahrhundert offenbar wurde: Moralisch vom Weltkrieg bis zu Auschwitz,
technisch-ökonomisch in der Umweltkrise des ausgehenden Jahrhunderts.“
(Seiten 78/79)
Für
Sieferle bleibt von der Aufklärung also nur die Technik übrig. Denn vom
Weltkrieg über Auschwitz bis zur Umweltkrise zeigt sich das Fehlen der
moralischen und ethischen Grundlagen der Aufklärung.
Ich
würde sogar noch weiter gehen. Angesichts von Kernwaffen, die bewusst über
zivilen Städten gezündet wurden, von Millionen Toten auf Grund von Kriegen
alleine der USA seit dem 2. Weltkrieg, neokolonialer Ausbeutung, angesichts
Millionen Hungertoter, die alleine durch Verzicht auf die Entwicklung eines
Kampfjets der 5. Generation hätten verhindert werden können, kann niemand
behaupten, dass der Geist der Aufklärung wirklich noch existieren würde.
Sieferle wagte es, die ausgetretenen Pfade der Auschwitz-Traditionen zu
verlassen und über die Erbschuld Deutschlands hinauszublicken. Mit keinem Wort
hat Sieferle die Verbrechen relativiert. Aber er wagt es, die Verbrechen
Nazi-Deutschlands in einen weiteren Kontext zu stellen. Und dies wiederum wird
ihm als Relativierung angerechnet werden.
ANTIFASCHISMUS
Der
Autor zeigt aber auch auf, wie man sich von dem Verbrechen reinwaschen kann.
Man muss sich nur „Antifaschist“ nennen, und schon ist man auf der moralisch
legitimierten und gereinigten Seite der Geschichte. Er stellt fest, dass viele
Ideologien des 20. Jahrhunderts verschwanden, nur noch „das fadenscheinige Banner des Antifaschismus übrigblieb“, wodurch
dieser eine paradoxe Struktur erhielt. Nun hatte ich zunächst geglaubt, er
meine mit dem Wort „fadenscheinig“ die heuchlerische, sich selbst
widersprechende Unterstützung von Nazismus in der Ukraine einerseits und
andererseits die Bekämpfung des Neonazismus in Deutschland durch die Gesellschaft,
insbesondere aber durch das Establishment. Aber er argumentiert losgelöst von
Ereignissen.
„Wer
‚Auschwitz‘ relativiert, relativiert die totale Unmenschlichkeit und somit die
Integrität des Menschen. Damit würde aber das einzig Absolute, welches die
moderne Gesellschaft, die von Relativismen und Perspektivismen aller Art
zerfressen ist, besitzen könnte, ebenfalls relativiert. Die Festschreibung des
Auschwitz-Mythos kann daher als Versuch verstanden werden, einer skeptischen
Welt Gewissheiten zurückzugeben.“
(Seite 82)
Sieferle
erklärt damit, dass „Auschwitz“ etwas ist, an das man sich halten kann, das es
unnötig macht, über Relativierungen
anderer Verbrechen nachzudenken. Eine neue Religion entsteht, stellt er
wiederholt fest. So wie ich bereits feststellte, dass nach christlich begründeten Kreuzzügen nun die Bombardierung
im Dienste der „Demokratie“ folgte, argumentiert Sieferle auf einem höheren
intellektuellen Niveau, wenn er schreibt:
„Die
sich zurzeit formierende neue Religion der Menschheit (deren rationale
Begründung seit der Aufklärungszeit niemals gelungen ist) kann sich auf ein festes
Fundament historischer Tatsachen stellen und daraus direkte politische
Konsequenzen ableiten. Eine wichtige programmatische Forderung zielt auf die
‚multikulturelle Gesellschaft‘. Dieses Konzept ist allerdings selbst
ambivalent.“
(Seite 83)
Die
neue Forderung, die aus der neuen „Religion“ entstand, ist die nach einer
„multikulturellen Gesellschaft“, schreibt der Autor, und bezeichnet das Konzept
als widersprüchlich.
Die
„Ambivalenz“ ergibt sich nach seinen Überlegungen daraus, dass einerseits die
kulturelle und materielle Homogenisierung der Menschheit das Ziel ist
(Universalismus), andererseits sollen indigene Völker zugunsten anderer,
eingewanderter Volksgruppen auf spezifische Identitäten verzichten, damit in
einer „multikulturellen Welt“ die Bewahrung völkisch-kultureller Besonderheiten
möglich ist (Relativismus). Am Ende des Kapitels erklärt Sieferle, dass es eine
letzte, paradoxe Konsequenz aus der Situation gibt:
„Das
Projekt einer homogenen Menschheit wird so lange nicht verwirklicht werden, wie
es nicht gelingt, die beiden hartnäckigsten Restposten völkischer Besonderheit
ebenfalls zu assimilieren und damit zu eliminieren. Der Assimilation der
Deutschen und Juden, ihrer Auflösung in bloße ‚menschliche Individuen‘, steht
jedoch die historische Struktur des Auschwitz-Mythos entgegen, dessen Kern ja
gerade in der Rebellion des Besonderen gegen das Allgemeine liegt.“ (Seite
86)
Mit
anderen Worten würde aber die Auslöschung deutscher und jüdischer
Besonderheiten der Wirkung der Geschichte durch Auschwitz für die Zukunft
entgegenstehen. .
In
diesem Kapitel finde ich die Gedanken zu sehr auf Deutschland fokussiert. Die Entwicklungen in den „Herausforderländern“,
den BRICS-Staaten z.B. oder die retrograde Philosophie muslimischer Einwanderer
und die daraus resultierende Gegenbewegung
werden nicht beleuchtet. M.E. wird die Idee der erwarteten
Homogenisierung der Menschheit mit dem Imperium USA untergehen. Und es werden
wieder neue Ideologien auftauchen, alte reformiert werden, die letztendlich
jene Linie wieder betonen werden, die ausgerechnet durch die Komintern 1941
ausgesprochen worden waren:
„Man
muss die Idee einer Verbindung von gesundem und richtig verstandenem
Nationalismus mit dem proletarischen Internationalismus entwickeln. Der
proletarische Internationalismus muss sich auf diesen Nationalismus in den
einzelnen Staaten stützen, (weil es) zwischen einem richtig verstandenen
Nationalismus und dem proletarischen Internationalismus keinen Widerspruch gibt
und geben kann. Ein heimatloser Kosmopolitismus, der nationale Gefühle, die
Idee der Heimat negiert, hat mit dem proletarischen Internationalismus nichts
gemein…“
(Dimitroff, Georgi, 2000, Tagebücher 1933-143, hsg. von Bernhard H. Bayerlein
und Wladislaw Hedeler, Aufbau, Berlin, Seite 387)
Man
ersetze „proletarischen Internationalismus“ durch „demokratischen
Internationalismus“ und wird m.E. die Lösung einer zukünftigen multipolaren
Welt erkennen. Damit hatten die Kommunisten, denen die erste Bestrebung eines
„internationalen Menschen“ nachgesagt wird, schon früh erkannt, dass die
„Homogenisierung“ der Menschheit keine Zukunft hat.
Im
letzten Kapitel wird Sieferle noch fragmentierter, grundsätzlich philosophisch,
und Gründe für seinen Suizid scheinen durchzuschimmern, wenn er schreibt:
„Die
moderne Wirklichkeit ist abstoßend, misst man sie an den ästhetischen Normen
tradierter Hochkulturen – sie ist vulgär, geschmacklos, laut, gierig,
desorientiert, grausam, oberflächlich, unappetitlich, widerwärtig und
selbstzerstörerisch. (…) Der Relativismus entwickelt einen Sog, dem sich
nichts, was in die Nähe dieses verzehrenden Strudels gerät, entziehen kann.“ (Seite
87/88)
Der
Absatz spiegelt eine grundsätzliche Ablehnung der gegenwärtig von Sieferle für
sich erkannte Entwicklung, den Kulturpessimismus eines enttäuschten
Intellektuellen höchsten Grades.
An
dieser Stelle will ich schließen, obwohl noch viele Fragmente einer
grundsätzlichen Zivilisationskritik zu erwähnen wären.
FAZIT
Am Ende des Buches muss ich feststellen, dass es anscheinend
vollkommen überbewertet wird. Ein Buch, das viel weniger Menschen gelesen
hätten, das einem rechtsgerichteten Verlag wesentlich weniger Profit beschert
hätte, wäre es nicht zensiert worden. Ist der Streisand-Effekt bei der
intellektuellen Elite des Spiegels in Vergessenheit geraten?
Sieferle hat mit dem Buch seinen grundlegenden
Kulturpessimismus zum Ausdruck gebracht. Es wirkt wie die Begründung für seinen
Suizid, geschrieben in erster Linie für sich selbst. Und für einen nachdenklichen
Leser ergeben sich zahlreiche Anlässe, Verständnis für seinen Pessimismus
aufzubringen.
Mein
Fazit ist, dass der Autor, sieht man nur dieses Buch, keineswegs ein so genannter „Neurechter“ oder Neonazi
ist. Wer als Kritiker seine Thesen in dieser Richtung interpretiert, bestätigt die
Grundsatzkritik Sieferles am fehlenden Intellektualismus in der heutigen Elite,
und seine Feststellung einer neuen Staatsreligion, die auf der „Erbsünde“ der
Deutschen basiert. Einer Religion, über die nicht diskutiert, die nicht
intellektuell hinterfragt werden darf und die sich wie fast jede Religion
absolutistisch darstellt.
Natürlich
werden neue Nationalsozialisten oder deren Surrogate gerne am Nektar des
Intellekts von Sieferle schlürfen, um ihre eigene Agenda zu verfolgen. Aber wer
aus diesem Grund sein Buch vor dem „unwissenden, dummen Leser“ verbergen will,
gehört eben zu jener Elite, die Sieferle so verabscheut, und nicht nur er.
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
AntwortenLöschenVielen Dank für Ihre informative Rezension dieses Buches, dessen Beurteilung als "überbewertet" durch Sie ich falsch finde: beides - Ihre Rezension und ihr Gegenstand - vermitteln auch dem Kenner der Materie noch sehr viele Denkanstöße. Vielen Dank dafür.
AntwortenLöschenSieferle widersprechen kann ich im Augenblick nur bei dieser seiner These: "Die Schuld der Juden an der Kreuzigung des Messias wurde von diesen selbst nicht anerkannt."
Mein Denkanstoß: Für eine Schuld-Anerkenntnis bestand und besteht für die jüdische Hierokratie auch nicht die geringste Veranlassung, weil hier nicht von einer Schuld gesprochen werden kann, ist doch Totschlag die Bestimmung / Vorsehung von Jesus Abgang aus seiner Menschlichkeit gewesen ist, konnte er doch nur dadurch – genauer: durch seine "Auferstehung von den Toten" – den Nachweis seiner Göttlichkeit erbringen.
Die jüdische Hierokratie hat damals also nur das gemacht, was sie nach ihrem „göttlichem Gesetz“: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“, machen musste.
Die christlichen Kirchen erblickten die "Schuld" des Talmud-Judentums ja deshalb auch in dessen Negation der christlichen Heilslehre, der Begründung eines „Neuen Bundes“ – und dies aus einem Grund, der auch von Sieferle nicht erkannt worden ist: Wie jedes andere "Tum" und jeder andere soziale "Ismus", so sind alle Religionen, also auch das Judentum und der Antisemitismus, eine institutionell materialisierte, realisierte Geschäftsidee (gewesen) - oder es bzw. er ist (existiert) nicht. ANTISEMITISMUS, DEUTSCHTUM, ZIONISMUS, JUDENTUM https://me/pxqev-Lw
Das genau ist ja auch die Erklärung für meine These, dass es heute keinen Antisemitismus mehr gibt, weil es ihn aus strukturellen Gründen nicht mehr geben kann und geben muss: DER ZIONISTISCHE ANTISEMITISMUSBEGRIFF https://me/sxqev-4289
Thank you so much for the detailed article.Thanks again.
AntwortenLöschenendlich eine angemessene Rezension mit größerer Reichweite https://isi.org/modern-age/the-german-problem/
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